Freitag, 2. Juni 2017

Forrest Leo: Der Gentleman



"Der Gentleman" von Forrest Leo ist ein herrlich schräger Roman, der mich bestens unterhalten hat. Wenn ich diesen Roman mit wenigen Worten beschreiben sollte, käme das dabei heraus: Monthy Python meets Eaton Place meets griechische Tragödie.

Die Handlung spielt in London, im Jahr 1850. Der talentfreie und mittellose Dichter Lionel Savage (22), Mitglied der Londoner Upper Class, sieht sich gezwungen zu heiraten. Irgendwo muss das Geld ja herkommen, sein gewohnt sorgenfreies und luxuriöses Leben muss finanziert werden, genau wie auch das seiner Schwester Lucie, für die er sich verantwortlich fühlt. Zu seinem Haushalt gehört auch der alte Butler Simmons, der Lionel und Lucie groß gezogen hat. So sucht sich also Lionel eine gute Partie und heiratet in eine reiche Londoner Familie ein. Das notwendige Übel wird ihm versüßt durch eine bildhübsche Ehefrau namens Vivienne.
"'Wir redeten nie über irgendwas. Und ängstlich ist sie. Und kränklich und blass und anfällig für grundloses Geflenne. Und wenn sie nicht heult, schmeißt sie Feste. Es ist furchtbar. Ich möchte sterben. Und ich kann nicht schreiben.'" (S. 46)
So schön wie Vivienne ist, so geistlos ist sie scheinbar auch. Die Eheleute haben sich nicht viel zu sagen und leben nebeneinander her. Lionels Kreativität leidet unter seinem Eheleben. Seitdem er verheiratet ist, hat er keine Zeile mehr zu Papier gebracht. Lionel ist verzweifelt, zieht sogar in Erwägung, sich das Leben zu nehmen. Einzig aus Rücksichtnahme auf Butler Simmons, zögert er den Selbstmord hinaus. Schließlich ist so ein Selbstmord in der Regel mit einer Riesenschweinerei verbunden, deren Beseitigung er Simmons nicht zumuten möchte. So hadert Lionel erstmal mit seinem Schicksal und sucht nach einem Ausweg.

Eines Tages steht der Teufel, ein netter distinguierter älterer Gentleman, in seinem Arbeitszimmer. Die beiden unterhalten sich ganz vertraulich, schildern sich gegenseitig ihre Probleme. Denn auch der Teufel hat es nicht leicht. Kurz darauf ist Lionels Ehefrau verschwunden. Was liegt da näher als anzunehmen, dass der Teufel Vivienne entführt hat. Lionels anfängliche Freude über die Lösung seines Kreativitätsproblems wird abgelöst durch Skrupel, schlechtem Gewissen und plötzlich aufkommender Gefühle für seine entführte Frau. Denn sein Schwager Ashley Lancaster behauptet, dass Vivienne ihren Lionel aus tiefster Seele lieben würde. Nur scheinbar hat Lionel dies bis jetzt nicht bemerkt. Nun ist es zu spät. Aber der romantische Lionel gibt nicht auf und stürzt sich in ein Abenteuer, mit dem Ziel, seine Vivienne aus den Fängen des Teufels zu befreien. Unterstützung bekommt er dabei von Schwager Ashley Lancaster, der zufällig ein berühmt-berüchtigter Abenteurer und Entdecker ist - quasi ein früherer Indiana Jones der Londoner Upper Class. Desweiteren stehen ihm Schwester Lucie zur Seite sowie ein schüchterner Erfinder und natürlich Butler Simmons.
"Was für eine eigentümliche kleine Gesellschaft wir sind: Lancaster sehr groß, Lizzie sehr jung, Simmons sehr ordentlich und ich sehr was auch immer*, mitten in der Nacht auf der Mall herumirrend. 
*Lasterhaft? - HL." (S. 187)
Der Autor Forrest Leo hat seinen Roman mit einem ungewöhnlichen Stilmittel ausgestattet. Der Leser erfährt bereits auf der ersten Seite des Buches, dass die Geschichte von Lionel höchstpersönlich niedergeschrieben wurde. Der Dichter hat Viviennes Cousin Hubert mit der Veröffentlichung seiner Geschichte beauftragt, was dieser auch zähneknirschend macht. Dabei lässt Hubert sich nicht nehmen, die Geschichte Lionels durch unzählige Fußnoten zu kommentieren. Denn er kann Lionel nicht leiden, woraus er auch keinen Hehl macht. Er nutzt die Gelegenheit, und macht Lionel lächerlich, wo es irgendwo geht. Oder er zweifelt dessen Geschichte stellenweise an und gibt seine eigene Sichtweise der Dinge wieder. Allein diese Fußnoten garantieren großes Lesevergnügen, denn Cousin Hubert geht nicht gerade zimperlich mit dem Ehemann seiner Cousine um.

Durch Lionels Erzählperspektive wirkt der Sprachstil herrlich versnobt und britisch überkorrekt. Lionel ist durch und durch ein Gentleman, was sich natürlich in seiner Wortwahl bemerkbar macht.
Die Charaktere sind allesamt sehr überzeichnet und mit einem Hang zum Lächerlichen dargestellt. Forrest Leo konzentriert sich dabei auf eine geringe Anzahl an Charakteren:
Lionel Savage: ein schmächtiger Romantiker, dem seine britische Erziehung und sein Gentleman-Gehabe ständig im Weg stehen
Lucie Savage: unkonventionell, die den Feminismus für sich entdeckt hat und gestandene Mannsbilder stramm stehen lässt
Ashley Lancaster: ein "Baum von einem Kerl", Frauenschwarm, der in der Wildnis besser zurechtkommt als im Londoner Großstadtdschungel, ständig auf der Suche nach einem Abenteuer und Kunstliebhaber
Simmons: Butler durch und durch, unauffällig aber trotzdem präsent, überkorrekt, bewahrt immer einen kühlen Kopf
.. und dann gibt es noch Vivienne, einen fliegenden Erfinder, einen Buchhändler sowie ein paar Nebencharaktere und Statisten, und natürlich Cousin Hubert.
Alles in allem also eine durchaus überschaubare Anzahl an Personen.

Fazit:
Dieser wundervolle Roman war ursprünglich vom Autor Forrrest Leo als Theaterstück vorgesehen, Das merkt man dem Buch mit jeder Zeile an. Die Geschichte und das Zusammenspiel der skurrilen Figuren sind bühnenreif. Als Leser fühlt man sich wie ein Zuschauer in der ersten Reihe, der sich mit großem Vergnügen von dieser Komödie unterhalten lässt. Die versnobte Sprache sowie die verrückte Geschichte garantieren einen riesengroßen Lesespaß!

© Renie





Über den Autor:
Forrest Leo, geboren 1990 in Alaska, wo er auch aufwuchs. Er lebte ohne fließendes Wasser und fuhr mit dem Hundeschlitten zur Schule. Er machte einen Bachelor in Schauspiel an der New York University und hat als Zimmermann, als Fotograf und im Großraumbüro gearbeitet. (Quelle: Aufbau)