Freitag, 16. Juni 2017

Chris Kraus: Das kalte Blut

Bücher mit über 1000 Seiten schrecken mich ja eher ab. Manche mögen das merkwürdig finden, denn schließlich sollte die Buchbloggerin Spaß an umfangreichem Lesestoff haben. Wenn eine Bücher in dieser Größenordnung stemmen kann, dann ist es doch die Vielleserin. Sollte man meinen. 
Meine Abneigung gegen dicke Bücher hat jedoch einen praktischen Grund. Wenn ich mich auf solch einen Wälzer einlasse, bleiben andere Rezensionsexemplare liegen. Mein kompletter Leseplan wird dadurch strubbelig gemacht, sehr zum Leidwesen anderer Verlage, die dadurch lange auf die Rezensionen ihrer Bücher warten müssen. 

Daher mache ich in der Regel einen großen Bogen um Bücher dieses Kalibers. Es sei denn, ich treffe auf einen Autor, der mir eine spektakuläre und fast unglaubliche Geschichte verspricht. Und genau so einer ist Chris Kraus, der in seinem Roman "Das kalte Blut" beweist, dass er ein begnadeter Erzähler ist.

Ich habe für dieses Buch tatsächlich 6 Wochen gebraucht. Und es hat sich gelohnt. Es gab keinen Moment, in dem ich das Interesse an diesem Roman verloren habe oder ich mich gelangweilt habe, weil ich mich durch überflüssige Textpassagen kämpfen musste. Denn die gibt es nicht in diesem Buch. Hier hat jedes Wort und jeder Satz seine Daseinsberechtigung, 1200 Seiten lang. 
So genial dieses auch Buch ist, so schwierig tue ich mich mit meiner Buchbesprechung. Seit Tagen sitze ich nun schon an dieser Rezension. Ich habe mehrmals angefangen, wieder verworfen, umgestellt und umformuliert. Nachdem ich dieses Buch gelesen habe, schießen mir unendlich viele Gedanken durch den Kopf, die sortiert werden müssen, was nicht ganz einfach ist.
Daher ist meine Buchbesprechung ein Versuch, von dem ich mit Bestimmtheit sagen kann, dass er dem Roman "Das kalte Blut" in keinster Weise gerecht wird.
Quelle: Diogenes

Worum geht es in diesem Roman?
  • es geht um 2 Brüder: Koja und Hubert, deren Liebe zueinander zu Hass wird
  • es geht um Liebesgeschichten
  • es geht um Spionage
  • es geht um deutsche Geschichte: 2. Weltkrieg, Kalter Krieg, Geschichte der BRD, des BND, ....
  • es geht um Schuld und Sühne
  • es geht um einen alten Mann und einen Hippie
Zwei Brüder - aus Liebe wird Hass
Die beiden deutschstämmigen Brüder Konstantin (genannt Koja) und Hubert Solm erleben ihre Kindheit und Jugend in Riga zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr unbeschwertes Leben vorbei ist. Denn mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, ändert sich für sie alles. Sie sind mehr deutsch als baltisch. Insofern ist es für sie fast schon eine Selbstverständlichkeit, dass sie sich einer deutschen geheimen Bewegung anschließen, um den Weg zur angestrebten Vormachtstellung der Nationalsozialisten in Estland zu ebnen. Dies ist der Beginn ihrer Agentenlaufbahn, bei der sie sich erste Lorbeeren verdienen. Schon bald werden sie Mitglieder der SS. Hubert ist dabei die treibende Kraft. Er macht Karriere in der SS und zieht seinen jüngeren Bruder mit. Nach Kriegsende gehören die Brüder zu denjenigen, die trotz ihrer Verbrechen, zunächst unbeschadet davonkommen. Denn die Alliierten gehen sehr großzügig mit den ehemaligen Mitgliedern der SS um. Schnell haben sie erkannt, dass diese über ein Wissen verfügen, dass sich die Geheimdienste der Siegermächte gern zunutze machen. Koja ist derjenige, dem es gelingt, in dem neuen System Karriere zu machen. Er beginnt als Agent, wird zum Doppel-Agenten, ja sogar zum Dreifach-, wenn nicht Vierfach-Agenten. Mit viel Raffinesse findet er sich in den russischen, amerikanischen, deutschen und sogar israelischen Geheimdiensten zurecht. 
"Denn der BND war stolz auf mich. Die CIA profitiert von meinen Erkenntnissen. Der KGB ließ mich in Ruhe. Und der Mossad gewann mich lieb." (S. 903)
Während Kojas stetigem Aufstieg, beginnt Huberts stetiger Abstieg. Er kann keinen Fuß in der neuen Organisation des mittlerweile gegründeten BND fassen und fällt sogar in Ungnade bei den Oberen. Die Bruderliebe und die Verantwortung, die Koja und Hubert früher füreinander empfanden, existiert schon lange nicht mehr. Ausschlaggebend für das zerrüttete Verhältnis, das die beiden jetzt haben, ist ein Vertrauensbruch von Koja, der während des Krieges ein Verhältnis mit Huberts Frau beginnt. Sein späterer Erfolg im Geheimagentenmetier und Huberts Misserfolg und Neid, tragen ihr Übriges dazu bei, dass die Brüder mit den Jahren einen tödlichen Hass füreinander empfinden und sich bis aufs Blut bekämpfen. Kain und Abel sind Waisenknaben dagegen.
"Mein Schild war er und meine Vernichtung und der Grund, warum ich war, was ich war, und warum ich wurde, was ich wurde." (S. 471)
Liebesgeschichten
Die Familie Solm nimmt während ihrer Zeit in Estland das jüdische Mädchen Ev bei sich auf. Die beiden Brüder und Ev wachsen wie Geschwister auf. Aus geschwisterlicher Zuneigung wird tiefe Liebe mit allen Konsequenzen. Ev entscheidet sich für Hubert, den sie heiratet. Doch sie kann ihre Gefühle für Koja nicht zurückhalten. So entsteht ein Dreiecksverhältnis, das sich lange vor Hubert geheim halten lässt. Koja ist hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen für Ev und seinen Skrupeln und schlechtem Gewissen gegenüber seinem Bruder. Eine Zeit lang gelingt es ihm, seine Gefühle für Ev auszublenden. Es bleibt jedoch nicht bei der einen Liebe zu Ev. Koja verliebt sich in die Russin Maja, zu der er lange Jahre eine Beziehung auf Distanz halten muss (erzwungen durch den KGB). Später kommen Ev und Koja wieder zusammen. Allerdings bilden sie eher eine Zweckgemeinschaft inklusive körperlicher Nähe. Sie gehen als Mann und Frau nach Israel. Sie als Jüdin, die sie schon immer war, er als Geheimagent, getarnt als ihr jüdischer Ehemann.

Spionage
Koja lebt in einem Spionagesumpf. Seine Anfänge hatte er in Hitlers SS. Zu diesem Zeitpunkt hat er noch großes Glück und einen großen Bruder, der ihn protegiert. Mit der Ankunft der Alliierten stehen die Talente der SS-Mitglieder auf einmal hoch im Kurs. Deutschland wird als Tummelplatz der Großmächte genutzt, die sich gegenseitig ausspionieren - mit Hilfe der ehemaligen SSler. Koja ist es egal, für wen er spioniert. Er lässt sich von den unterschiedlichen Geheimdiensten rekrutieren, die teilweise von seiner Doppelagententätigkeit wissen. So funktioniert nun mal das Spionagegeschäft.
"Eines müssen Sie aber wissen: Ein Geheimdienst arbeitet umso besser, je weniger er von demokratischer Kompetenz versteht. Und Legalität und Grundgesetztreue helfen nicht viel, wenn man sowjetische Spione umbringen muss (Rauschmittel hingegen schon)." (S. 630)
Deutsche Geschichte
Über einen Zeitraum von ca. 70 Jahren begegnen dem Leser Ereignisse wie der 2. Weltkrieg, der Holocaust, der Kalte Krieg, der Aufbau der Bundesrepublik Deutschland sowie des BND, bis hin zu Strauß' Waffengeschäften mit Israel sowie einen Ausschnitt aus der Geschichte der deutschen Justiz. Der Autor Chris Kraus bringt dabei fiktive und reale Persönlichkeiten zusammen und lässt sie an der Handlung teilhaben. So spielen Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer, Franz-Josef Strauß oder Otto John (1. Chef des deutschen Verfassungsschutzes) und viele mehr wichtige Rollen in diesem Roman. Chris Kraus zeichnet dabei ein Bild dieser Persönlichkeiten, das nicht unbedingt schmeichelhaft ist. Wer stellt sich gern Franz-Josef Strauß in langen Unterhosen vor? Doch genauso trifft man den damaligen Bundesminister für besondere Aufgaben an, der Jahre später Ambitionen zum Amt des Bundeskanzlers hatte. Die Personen werden mit all ihren menschlichen Schwächen dargestellt, was teilweise überzogen erscheint, aber immer interessant ist.

Schuld und Sühne
In diesem Buch geht es um viel Schuld und weniger Sühne. Schuld ist etwas, was die Brüder ihr Leben lang begleiten wird, ihre Tätigkeit bei der SS hat den Grundstein dafür gelegt. Sie haben auch gesühnt, insbesondere Koja musste schwere Schicksalsschläge erleiden, an denen sein Bruder nicht ganz unbeteiligt war. Aber Schuld und Sühne dürfen und werden in diesem Roman nicht gegeneinander aufgewogen.
Die beiden Brüder stehen stellvertretend für einen großen Teil der Deutschen, die während der Zeit des Nationalsozialismus Schuld auf sich genommen haben. Durch diesen Roman ist mir erst einmal bewusst geworden, wie einfach es in der Nachkriegszeit war, die eigene Schuld zu verschweigen und der Verantwortung zu entgehen. Einem großen Teil der ehemaligen SS-Angehörigen und Nazi-Verbrecher fand sich in der Nachkriegszeit in hoher Stellung in Politik und Wirtschaft wieder. Hier konnten sie mit aller zur Verfügung stehenden Scheinheiligkeit und Doppelmoral dafür sorgen, dass sie auch juristisch gesehen für ihre Taten nicht weiter behelligt werden.

Ev wird in diesem Roman zur Nazi-Jägerin. Dabei spürt sie weltweit Nazi-Verbrecher auf und lässt dabei Personen auffliegen, die es bis in die deutschen Regierungskreise gebracht haben. Die Ironie an der Sache ist, dass sie bei ihrer Arbeit Unterstützung von Koja erhält, der aufgrund seiner SS-Historie selber Dreck am Stecken hat, dies jedoch erfolgreich vertuschen kann.
"Wem daher vor Gericht nicht mit letzter Gewissheit nachgewiesen werden konnte, dass er mit voller Absicht und leidenschaftlicher Begeisterung Kehlen durchgeschnitten oder jüdische Kinder ertränkt hatte, entkam der Nachstellung - selbst dann, wenn er in irgendeinem schlechtgeführten Konzentrationslager in die Verlegenheit gekommen sein sollte, dies und jenes durchschnitten oder ertränkt zu haben, sofern er es eben aus reiner Hilfsbereitschaft den Hihiheys (Hitler, Himmler, Heydrich) gegenüber getan hatte und nicht aus Jux und Dollerei." (S. 1023)
Ein alter Mann und ein Hippie
Die Handlung dieses Romanes findet auf 2 Ebenen statt. Er beginnt in der Gegenwart, in einem Krankenhaus. Der alte Koja sowie ein Hippie sind Bettnachbarn. Beide sind schwer krank. Koja erzählt dem Hippie seine ungeschönte Lebensgeschichte. Es geht ihm vor allem um Absolution und Erleichterung seines Gewissens. Da der Hippie Anhänger der buddhistischen Lehre ist, bedeutet dieses Gespräch einen Angriff auf seine friedliebende Lebenseinstellung und stürzt ihn in tiefe seelische Konflikte. Mit der Zeit sind die Erzählungen Kojas für den Hippie kaum noch zu ertragen. Doch er muss zuhören.  Ihm bleibt nichts anderes übrig, zumal auch seine kontinuierlich schlechter werdende körperliche Verfassung keine Flucht vor seinem Bettnachbarn zulässt. Er ist ihm ausgeliefert, was Koja ausnutzt und seinen Seelenmüll bei ihm ablädt.

Man sieht also, dass Chris Kraus in diesem vielschichtigen Roman eine Menge zu erzählen hat. Eine Journalistin der Süddeutschen Zeitung hat den Satz formuliert: "Chris Kraus ist ein besessener Erzähler". Treffender kann man den Autor nicht beschreiben. Denn diese Besessenheit kommt fast schon naturgewaltig in jeder Zeile durch. Als Leser gerät man in einen Leserausch, von dem man sich nicht lösen kann. Der fantasievolle und ausdrucksstarke Sprachstil ist ein Hochgenuss, die erzeugte Spannung kann durchaus mit einem Thriller mithalten. 1200 Seiten und keine einzige Seite zu viel! Leseempfehlung!

© Renie

"Das kalte Blut" von Chris Kraus, erschienen im Diogenes Verlag (März 2017)
ISBN: 978-3-257-06973-0 


Über den Autor:
Chris Kraus, geboren 1963 in Göttingen, ist Filmregisseur, Drehbuchautor und Romancier. Seine Filme (darunter ›Scherbentanz‹, ›Poll‹) wurden vielfach ausgezeichnet, ›Vier Minuten‹ mit Monica Bleibtreu und Hannah Herzsprung gewann 2007 den Deutschen Filmpreis als bester Spielfilm. Sein neuer Film, die Tragikomödie ›Die Blumen von gestern‹, mit Lars Eidinger in der Hauptrolle, startete im Januar 2017 in den Kinos. ›Das kalte Blut‹ ist Chris Kraus’ zweiter Roman. Der Autor lebt in Berlin. (Quelle: Diogenes)