Dienstag, 14. Februar 2017

Travis Mulhauser: Sweetgirl

Quelle: Pixabay/Unsplash

Eine Kleinstadt im tief verschneiten Michigan, USA. Hier lebt die 16-jährige Percy mit ihrer drogenabhängigen Mutter. Percy musste früh lernen, erwachsen zu sein und Verantwortung für sich und ihre Mutter zu übernehmen. Die Schule hat sie abgebrochen und arbeitet stattdessen in einer Holzwerkstatt. Das Leben mit einem Junkie als Mutter ist nicht leicht. Percy lebt mit der ständigen Sorge um ihre Mutter, deren Verhalten unberechenbar ist. Es gibt seltene Momente, in denen Percy hofft, dass ihre Mutter es schafft, von den Drogen loszukommen. Doch diese Momente der Hoffnung werden meist von der Angst überschattet, dass ihrer Mutter etwas zustößt. Denn oft weiß Percy nicht, wo ihre Mutter gerade steckt und was sie anstellt. Dass Percy's Mutter sich oft mit zwielichtigen Personen abgibt trägt sein Übriges dazu bei.

Als ihre Mutter eines Tages mal wieder auf Drogen und verschwunden ist, begibt sich Percy, wie schon so viele Male zuvor, auf die Suche nach ihr. Auf einen Tipp hin fährt Percy zu dem Haus des gewalttätigen Drogendealers Shelton. Keine Spur von ihrer Mutter. Stattdessen findet sie - neben dem zugedröhnten Shelton und dessen Freundin - ein schreiendes und sichtbar vernachlässigtes Baby. Sie entscheidet sich spontan, das Kind mitzunehmen und ins nächste Krankenhaus zu bringen. Da ein Schneesturm losbricht und ihr Auto im Schnee feststeckt, ist sie gezwungen, den Weg ins Krankenhaus zu Fuß zurückzulegen. Percy weiß, dass, sobald die Entführung des Babys entdeckt ist, Ärger droht, wenn nicht sogar Schlimmeres. Der Drogendealer ist für seine Gewalttätigkeit berüchtigt. Natürlich entdeckt Shelton das Verschwinden des Kindes und mobilisiert seine Kumpel, ihm bei der Suche zu helfen. Noch weiß er nicht, dass Percy das Kind genommen hat. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis er ihr auf die Spur kommt.
"Ihre Tränen waren in den Augenwinkeln gefroren. An den Spitzen ihrer schwarzen Haare hing Schnee, und über die weißen Dampfwölkchen, die aus ihrem Mund kamen, hätte ich heulen können, weil sie so winzig waren. Ich kannte dieses Baby erst ein paar Stunden, aber es hatte mir schon ein halbes Dutzend Mal das Herz gebrochen." (S. 74)
Ein Teenager, der ein Baby entführt hat, wird von einem Kriminellen gejagt und hofft auf Rettung.
Darum geht es also in diesem Thriller - wobei ich mich schwer damit tue, diesen Roman auf das Thriller-Genre zu beschränken. Tatsächlich weiß der Autor viel mehr zu erzählen, als "nur" von einer Menschenjagd durch das verschneite Michigan.
Zunächst führt uns der Autor in diese hinterwäldlerische Kleinstadt. Der Ort scheint ausschließlich aus Menschen zu bestehen, die irgendwie über die Runden kommen müssen, zumindest lernt man keine reichen Bewohner dieses Ortes kennen. Und diese Menschen lassen sich in "rechtschaffen" und "kriminell" unterteilen - also "gut" und "böse." Dabei macht der Autor es dem Leser leicht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die bösen Buben wirken durch die Bank weg ein wenig "unterbelichtet". Bei einigen mag es am  Drogenkonsum liegen, bei anderen an der mangelnden Schulbildung und was es sonst noch an Ursachen für Beschränktheit gibt.
Quelle: dtv

Beschränktheit scheint im Übrigen eine der Hauptursachen für die Todesfälle, während der Verfolgung von Percy zu sein. Denn was wäre ein Thriller ohne Tote? Hier kommen also Menschen um. Und es wird den Leser freuen, denn i. d. R. sind es die Bösen, die sterben, meistens aus Versehen - Beschränktheit sei Dank!
Dadurch bekommt dieser ungewöhnliche Thriller eine lustige Komponente. Man kann es sich einfach nicht verkneifen, über soviel Dummheit zu lachen. Der Autor Travis Mulhauser spart dabei auch nicht mit schwarzem Humor, was die Dummen noch dämlicher erscheinen lässt.
"Shelton hatte ihn umbringen wollen, aber jetzt war er erleichtert, dass er es nicht getan hatte. Zugleich war es ihm peinlich, wie schlecht er getroffen hatte. Aus nicht mal drei Metern Entfernung schaffte er es nicht, einen Mann in die Brust zu treffen! Vielleicht hatte er ein Problem mit den Augen." (S. 196)
Percy ist alles andere als dumm. Mit ihren 16 Jahren ist sie mehr Erwachsene als Jugendliche. Da sie von kleinauf für ihre Mutter sorgen und Verantwortung für sich übernehmen musste, scheint ihr auch ein großer Teil ihrer Kindheit abhanden gekommen zu sein. Mit den wenigen Möglichkeiten, die sich ihr bieten, versucht sie aus ihrem Leben etwas zu machen. So hat sie ein handwerkliches Talent, das sie in einer Schreinerei sinnvoll einzusetzen weiß und so ihren Lebensunterhalt verdient. Sie scheint nicht in das Umfeld, in dem sie lebt, hineinzupassen. Denn sie versucht, durch die wenigen Chancen, die sich ihr bieten, aus ihrem Leben etwas zu machen. Nur leider bieten sich in einem Ort wie diesem nicht gerade viele Chancen. 
Mich hat die Frage beschäftigt, was Percy dazu bewogen hat, das Baby einfach mitzunehmen. Die Situation hätte sich mit Sicherheit anders lösen lassen. Aber da Percy von kleinauf gelernt hat, für Schwächere da zu sein - bisher war es die Mutter - folgt sie einfach ihrem Bauchgefühl, das ihr sagt, das Baby mitzunehmen. Scheinbar ist hier ein Mensch, der noch weniger Chancen hat als sie. 
"Mamas Liebe war immer kompliziert gewesen und war es bis heute geblieben - sie war gleichzeitig die Sonne, der ich mein Leben verdankte, und der unendliche, kalte Weltraum, durch den ich um sie kreiste." (S. 239)
Fazit
In diesem ungewöhnlichen Thriller trifft Spannung auf Komik! Mich haben die Kontraste in diesem Roman begeistert. Zum Einen haben wir eine düstere und bedrohliche Stimmung, die allein schon durch den Schauplatz hervorgerufen wird: die miefige Kleinstadt inmitten der dunklen Wälder, während eines Schneesturms. Dem gegenüber stehen die dummen bösen Jungs, die durch den schwarzen Humor des Autors für ungeheuer viel Komik sorgen. Das ist eine sehr gelungene Mischung, die beim Lesen für sehr viel Spannung und Unterhaltung sorgt. Leseempfehlung! 

© Renie



ISBN: 978-3-423-26126-5