Freitag, 30. Dezember 2016

A. P. Glonn: Die andere Seite der Realität

Ein phantastischer Jack-the-Ripper-Roman ....

Vom Jahre 1888 an hat Jack the Ripper in London sein Unwesen getrieben. Auf sein Konto sollen damals mindestens fünf Opfer gegangen sein. Wahrscheinlich waren es mehr. Doch woher kam er und wohin ging er? Gefasst hat man ihn nie. Es gab zwar einige Verdächtige, u. a. auch innerhalb der gehobenen Kreise Londons. Man munkelte sogar, dass ein enger Verwandter der damaligen Königin Viktoria der Ripper wäre. Aber wer letztendlich hinter Jack the Ripper steckte, ist nie herausgekommen. Die deutsche Schriftstellerin A. P. Glonn hat in Die andere Seite der Realität aus einer eigenwilligen Theorie einen Roman entwickelt, der die Frage nach der Person Jack the Ripper auf phantastische Art beantworten könnte.

Der Anfang dieses Romanes führt uns nach London. Wie in jedem guten Jack-the-Ripper-Krimi findet eine Unzahl an bestialischen Frauenmorden statt. Im Mittelpunkt steht der Agent Seth Aspen mit seinen Ermittlungen. Er beißt sich an dem Fall fest. Für die Öffentlichkeit erscheinen die Ermittlungen erfolglos. Die Bevölkerung wird unruhig. Die Polizei steht unter Druck. Diverse Verdächtige tauchen auf der Bildfläche auf, leider erweisen sich die Anschuldigungen als falsch. Und in dem Moment, in dem man als Leser denkt "Ok, wieder eine Leiche und ein Verdächtiger mehr", nimmt die Handlung Fahrt auf. Auf einmal wird aus dem „gemütlichen“ Krimi ein Fantasyroman, der es in sich hat.
"'...Hier geht es um weitaus mehr als einen simplen Verrückten, der keine Frauen mag. Das ist politisch hochbrisant. Die Verdächtigenliste liest sich inzwischen wie das Who is Who der englischen Gesellschaft.'" 
Es gibt eine heiße Spur, die nach Amerika führt. Seth nimmt die Verfolgung auf. Man beachte, in der Zeit um 1890 war man noch mit Pferdekutschen und Dampfschiffen unterwegs. Eine Überfahrt von Europa nach Amerika hat ein paar Wochen gedauert. Jack the Ripper hat einen Vorsprung von nur wenigen Tagen, der sich aber in einem riesigen Land wie Amerika als uneinholbar erweisen kann. Doch Seth bekommt Unterstützung von den amerikanischen Behörden. Die Spur des Rippers führt mittlerweile bis nach Kanada. Und dort passiert es: Der Ripper und Seth treffen aufeinander. Nun sollte man meinen, dass die liebe Seele Ruhe hat. Der Ripper ist gefasst? Falsch gedacht. Denn der Ripper besitzt sehr überraschende Fähigkeiten. Die Handlung geht von jetzt an in eine Richtung, mit der man in keinster Weise gerechnet hat, nämlich auf die "andere Seite der Realität".
"Er war ein Mann der Moderne, doch alles, was ihm hier begegnete, war primitiv oder magisch. Wo blieb die Vernunft?"
Seth findet sich auf einmal in einer Parallelwelt wieder. Er, der Kopfmensch, hat es plötzlich mit einer Welt zu tun, in der die Bevölkerung die unterschiedlichsten magischen Fähigkeiten aufweist. Die Jagd nach dem Ripper geht hier weiter. Seth findet dabei Unterstützung in den Bewohnern dieser Welt, die erkannt haben, dass der Ripper auch ihr Dasein bedroht. 

Der Leser begegnet den unterschiedlichsten phantastischen Charakteren: Schattenläufer, Wolfsmänner, Windläufer, Glengalls ... um nur einige zu nennen. Das Zusammenspiel zwischen Seth und den magischen Charakteren, die ihn auf der Jagd nach dem Ripper unterstützen, ist dabei sehr amüsant. Er kann den englischen Gentleman einfach nicht ablegen, was seine magischen Freunde einerseits befremdlich, andererseits aber sehr amüsant finden. 
"Er war hier gestrandet, ein Glengall, ein unmagischer Fremder, dem jeder Bewohner dieser seltsamen Welt etwas antun konnte, dem die Häscher eines Yorcks mit unglaublichen Fähigkeiten auf den Fersen waren, und der möglicherweise von dem Ungeheuer gejagt wurde, das in Whitechapel all diese unglücklichen Frauen abgeschlachtet hatte."
Dem Leser eröffnet sich also mit der "anderen Seite der Realität" eine interessante Phantasiewelt, die aufgrund der magischen Charaktere zu faszinieren weiß. A. P. Glonn hat diese Phantasiewelt akribisch ausgetüftelt. Daher bleibt zu hoffen, dass es nicht bei dieser einen Geschichte bleibt, sondern Glonns Welt Schauplatz für weitere Romane sein wird. Das Ende ist so gestaltet, dass eine Fortsetzung durchaus möglich wäre.

Fazit:
A. P. Glonn ist mit diesem Roman eine faszinierende Mischung aus Krimi, Steampunk und High Fantasy gelungen. Ich gebe zu, dass ich nicht darauf vorbereitet war. Ich habe mich von dem Stichwort „Jack the Ripper“ auf die falsche Fährte führen lassen und mit einem Krimi gerechnet, den man tatsächlich auch im ersten Teil dieses Romanes findet. Jedoch mit Eintritt in die Parallelwelt findet man sich in einem völlig anderen Buch wieder, was der Qualität dieses Romanes jedoch keinen Abbruch tut. Ganz im Gegenteil. Ich lasse mich gern überraschen, insbesondere, wenn diese Überraschung mit soviel Spannung und Unterhaltung verbunden ist wie dieser ungewöhnliche Roman von A. P. Glonn.

© Renie


Die andere Seite der Realität von A. P. Glonn, erschienen im Luzifer Verlag
Ersterscheinung 2014
ISBN: 978-3-943408-40-9







Donnerstag, 22. Dezember 2016

Jakob Arjouni: Happy Birthday, Türke!

"Helles, saftiges Neon, Zentnerbusen, orgiastisch grunzende Frauen in Öl, rosa kolorierte Arschberge zogen sich links und rechts die Häuserwände entlang. Vor den roten Plüscheingängen verschiedener Clubs lehnten bleiche, ranzige Männer, um mit markigen Sprüchen die vorbeiziehenden Passanten zu einem Besuch anzuhalten." (S. 50)
Jakob Arjouni entführt uns mit seinem Kriminalroman „Happy Birthday, Türke!“, geschrieben 1985, in das Frankfurter Rotlicht-Milieu der 80er Jahre. Vor einem Bordell ist ein Türke erstochen worden. Die Polizei erweist sich bei der Aufklärung des Falles als ungewöhnlich zurückhaltend. Daher bittet die Witwe des Ermordeten den Privatermittler Kemal Kayankaya – übrigens besagter Türke aus dem Buchtitel – um Unterstützung. Er übernimmt den Auftrag und stellt seine Nachforschungen mit teilweise sehr unkonventionellen Methoden an. Dabei tritt er so manchem Zeitgenossen empfindlich auf die Füße.
So weit, so gut. Bis hierhin handelt es sich um eine, für einen Kriminalroman relativ unspektakuläre und nicht ungewöhnliche Geschichte. Doch was Arjouni aus dieser einfachen Geschichte macht, ist großes Kino. Das hat sich die Regisseurin Doris Dörrie wohl auch gedacht, denn sie hat diesen Roman Anfang der 90er Jahre verfilmt. 

Kemal Kayankaya (Ich-Erzähler) hat nicht viel mit einem seriösen Privatdetektiv gemein. Er erfüllt eher die Rolle des versoffenen und schmuddeligen Privat-Schnüfflers, der sich durch teilweise sehr unkonventionelle Ermittlungsmethoden hervortut. 

Kemals Ermittlungen führen ihn in das Frankfurter Rotlichtmilieu. Bei seinen Nachforschungen gerät er an die unterschiedlichsten Figuren, die in Jakob Arjounis Darstellung sehr skurril wirken: Nutten, Zuhälter, Drogenabhängige, Kellner…. Selten hat jemand ein nettes Wort für den türkischen Schnüffler Kemal übrig. Allgemein trifft er auf Feindseligkeit und Ablehnung. Man sieht ihm die "Kanacke" nun mal an, und das lassen ihn die Leute auch - teilweise übelst - spüren. Er muss gehörig einstecken, teilt aber auch ordentlich aus. 
"Ich watete durch weiche Teppiche zu einem Tisch und nahm Platz auf Schaumgummikissen in Seide. Hinter der Theke stand Milly, jedenfalls sah sie so aus. Vor vielen Jahren musste sie eine Bombe gewesen sein. Heute konnte keine Farbe die tiefen Falten verbergen. Wasserstoffblond hingen die Haare neben dem schlabbernden Doppelkinn. Ein Stück Leopard betonte ihre Fettröllchen über der Hüfte, stützte den schlaffen Busen und vermittelte den Eindruck einer abgetakelten Dame, die sich bei der Größe ihres Pelzmantels verschätzt hat. ... Ich hockte im lila Plüsch und kam mir ziemlich behämmert vor." (S. 56)
Dabei verbindet Kemal, abgesehen von seinem Namen, recht wenig mit seinen türkischen Wurzeln. Als Kind von Deutschen adoptiert, hat er so gut wie gar nichts von der türkischen Kultur mitbekommen. Insofern ist doch sehr amüsant, dass die türkischen Witwe ihn nur beauftragt, weil sie ausschließlich einem Türken vertrauen kann, Kemal jedoch kaum ein Wort Türkisch spricht. Aber irgendwie kann er sie doch von sich überzeugen, ihre Verzweiflung ist scheinbar zu groß.

Innerhalb weniger Tage kommt Kemal dem Geheimnis um den Mord an dem Türken auf die Spur. Dabei tun sich Verwicklungen auf, an die man zu Beginn der Geschichte nicht im Traum gedacht hätte. 
Abseits des Rotlichtmilieus trifft Kemal auch auf „Normalos“ – Menschen aus dem Mittelstand, die sich ein behagliches Leben eingerichtet haben und eigentlich nicht viel zu tun haben mit der Szene um den Frankfurter Bahnhof - das sollte man zumindest meinen ;-). Hier macht sich Jakob Arjouni einen Spaß und skizziert diese Charaktere sehr übertrieben als Frankfurter Originale, die besonders durch ihr Frankfurter Gebabbel beim Lesen viel Vergnügen bereiten. Man fühlt sich teilweise an Slapstick-Komiker erinnert.
Ausschnitt, Seite 35
"' Ich habe eine Frage wegen Ihrer vor drei Jahren verstorbenen Tochter.' 'Frache Se doch.''Wie ist sie genau umgekommen?' 'Zischel uffen Kopp.' ... 'War sie sofort tot?' 'Ja.' 'Was hat der Arzt gesagt?' 'Zischel uffen Kopp.'" (S. 43)
Der Humor von Arjouni ist schon sehr derbe und offenherzig, manchmal bewegt er sich an der Grenze zum guten Geschmack. Aber genau dadurch versetzt er den Leser in eine "Rotlicht-Romantik", die zwar klischeehaft ist, aber gerade deshalb gern angenommen wird.

Unterstützt wird diese Rotlicht-Romantik durch die Karikaturen des Illustrators Philip Waechter, der seine Zeichnungen mit milieugerechten Rosa-/Lila-/Pink-Farbtönen schmückt.
Diese Farbmomente sorgen bei einigen Zeichnungen für Irritationen. Insbesondere in Verbindung mit Arjounis Männerfiguren wirken diese Farben herrlich deplatziert. Rosa passt einfach nicht zu einem harten Kerl ;-) Und trotzdem hätte keine andere Farbgebung dieses Milieu besser wiedergegeben. Rosa/lila/pinke Farbtöne sind nun einmal typische Szenefarben. Wenn man dann noch den silbrigen Prägedruck des Titels auf dem Buchdeckel betrachtet, fühlt man sich vollends in die plüschige Glitzerwelt der Rotlichtszene versetzt. Treffender ließe sich dieser Roman wohl kaum illustrieren.

Fazit:
Philip Waechter liefert mit seinen Zeichnungen das Sahnehäupchen für einen unterhaltsamen und spannenden Kriminalroman. Waechter greift den derben Humor des Autors Arjouni auf und toppt diesen sogar noch mit seinen Karikaturen. Seine Farbgestaltung betont das Rotlicht-Feeling, das Arjouni in seinem Roman vermittelt.
Die Ausgabe der Edition Büchergilde liefert somit eine perfekte Kombination zwischen Geschichte und Illustration, die einfach nur Spaß macht.

© Renie

ISBN: 978-3-86406-075-5


Über Jakob Arjouni:
Jakob Arjouni (1964–2013) war 21 Jahre alt, als sein Frankfurter Privatdetektiv Kemal Kayankaya in Happy birthday, Türke! zum ersten Mal ermittelte. Für Ein Mann, ein Mord erhielt Jakob Arjouni 1992 den Deutschen Krimipreis. Mehrere seiner Romane, u. a. Cherryman jagt Mister White, sind mittlerweile Schullektüre. Sein Werk ist in 23 Sprachen erschienen.

Über Philip Waechter:
Philip Waechter, 1968 geboren, studierte Kommunikationsdesign mit dem Schwerpunkt Illustration an der Fachhochschule Mainz. Bereits ein Jahr vor seinem Diplom, 1995, erschien seine erste Buchveröffentlichung. Seither ist er für verschiedene Buchverlage tätig und arbeitet als freier Zeichner in Frankfurt. Waechter ist Mitbegründer der Ateliergemeinschaft LABOR in Frankfurt.

Donnerstag, 15. Dezember 2016

Philipp Winkler: Hool

Die Begeisterung und Ekstase, die Fußball bei so vielen Leuten hervorruft, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ich kenne zwar die Spielregeln, bin auch mit der Bundesliga vertraut, gehe auch manchmal ins Stadion. Natürlich sehe ich mir Europa- und Weltmeisterschaften an. Aber das war's dann auch schon. Alles, was darüber hinausgeht und scheinbar auch zum Fußball dazugehört wie Schlachtgesänge und Fan-Krawalle, ist für mich nicht zu begreifen. Wenn ich brüllende Fußballfans sehe, denen der Hass auf die gegnerische Mannschaft aus jeder Pore tropft, denke ich immer nur: "Meine Güte, wie hohl!"

Quelle: Aufbau

Und dann ist mir "Hool" von Philipp Winkler vor die Lesebrille gekommen, ein Roman über eine Gruppe von Hooligans aus Hannover. Dieses Buch befasst sich ausgiebig mit dieser, für mich unverständlichen Welt. Ich bin noch nie so voreingenommen an ein Buch herangegangen wie an dieses. Aber mich beschäftigte einfach die Frage, was Menschen dazu bewegt, sich solch gewaltbereiten Gruppierungen anzuschließen. Mit "Hool" erhoffte ich mir eine Antwort.

Gleich vorweg: Das Buch und ich hatten keinen guten Start. Wenn ich auf den ersten Seiten schon mit einer organisierten Massenschlägerei konfrontiert werde und eine Gruppe Hooligans kennenlerne, die sämtliche Klischees zu dieser Szene bedient, überkommt mich Widerwillen, nahezu Ekel. Winkler hat es jedoch erstaunlicherweise geschafft, dass sich mein Widerwillen in Luft aufgelöst hat und ich lernte, mich auf die Personen einzulassen, die im Laufe der Handlung immer mehr aus der grauen Masse der Hooligans hervorstachen und immer mehr Profil bekamen. Allen voran Heiko, der Hauptprotagonist und Ich-Erzähler in Winklers Roman.
"Neben mir johlt die Bierkastentruppe noch immer ihre dämlichen Jubelgesänge. Sonst ist niemand zu sehen. Niemand, dem ich mit Anlauf ins Gesicht springen kann. Niemand, dem ich meine pochenden Fäuste in die Fresse jagen kann. Niemand, an dessen Zähnen ich mir die Finger aufschneiden kann, nur um weiterzuschlagen, bis sie sich von Wurzeln und aus dem Zahnfleisch lösen. Und niemand, auf den ich weiter einschlagen könnte, bis er an den eigenen Zähnen erstickt. Stattdessen klopft mir der Regen auf die Schultern und die Schädeldecke und hämmert mir die Wut in jede einzelne Faser meines Körpers." (S. 180)
Heiko kommt aus einer Familie, die völlig verkorkst ist. Vater Hans ist Alkoholiker, die Mutter ist abgehauen. Geborgenheit und ein liebevoller Umgang existieren nicht in dieser Familie. Stattdessen trifft man auf Gleichgültigkeit und Nebeneinander herleben. Alles scheint sich darum zu drehen, den Vater Hans bei Laune zu halten und die Konsequenzen und Blessuren aus seinem Alkoholkonsum möglichst gering zu halten. Mittlerweile hat sich Hans sogar eine Ersatzfrau besorgt: Mie aus Thailand, die in Heikos Elternhaus völlig deplatziert wirkt. 
Heiko hat keinen Schulabschluss und keine Ausbildung. Er jobt bei seinem Onkel Axel, der einen Boxing-Gym betreibt, indem zwielichtige Gestalten ein- und ausgehen. Axel ist der Anführer einer Gruppe Hooligans und organisiert regelmäßig Prügeleien mit befeindeten Fangruppen anderer Fußballclubs. In Axels Gruppe herrscht eine stramme Hierarchie: es gibt die erfahrenen Mitglieder, die sich ihre Sporen bereits seit langem erkämpft haben und in der Hackordnung weit oben stehen. Der Nachwuchs muss sich noch bewähren und hat sich demnach unterzuordnen. Das Gruppenleben wird von klaren Regeln bestimmt. Auch wenn Heiko zum Nachwuchs gehört, nimmt er doch eine Sonderstellung innerhalb der Gruppe ein. Schließlich wird er als derjenige gehandelt, der früher oder später die Nachfolge seines Onkels antreten wird.
Heiko ist früh von zuhause ausgezogen. Man kann es ihm nicht verdenken. Er kommt bei Arnim unter, einem durchgeknallten Ex-Knacki, der sich in einem heruntergekommenen Haus eingenistet hat und hier illegale Tierkämpfe veranstaltet.

Heikos Familienersatz sind seine Freunde aus der Hooligan-Gruppe. Sie kommen aus den unterschiedlichsten Verhältnissen: Kai – Kind reicher Eltern und Student; Jojo – Jugendtrainer, seine Familie kommt dem Begriff einer „normalen“ Familie am nächsten; Ulf – Familienvater. Heikos Freunde haben eines gemeinsam: Sie haben eine Perspektive außerhalb der Hooligan-Szene und dadurch die Möglichkeit, jederzeit auszusteigen. Heiko fehlt diese Perspektive. Er setzt auf die Hools, macht diese Gruppe zu seinem Lebensinhalt. Seine Perspektive besteht darin, bei der nächsten Schlägerei, den Gegner richtig aufzumischen und "Geschichte zu machen" - was auch immer das bedeuten mag.
"'... ich habe null', ich forme mit den Fingern einen Kreis, ,nichts. ... Das hier habe ich. Mehr nicht. Ich beschwer mich nicht darüber. Und weißt du, warum? Weil ich für das hier lebe. Weil ich dafür eintrete und dazu stehe. ..." (S. 234)
Wie bereits erwähnt, stellt Winkler seine Charaktere als Teil einer Masse dar. Ich hatte zu Beginn Schwierigkeiten, die einzelnen Personen zu unterscheiden. Aber mit der Zeit kristallisieren sich die Charaktere aus der Masse heraus. Sie erhalten ein Profil, einen Hintergrund und ein Schicksal. Auf einmal hat man als Leser einen ganz anderen Zugang zu diesem Buch. Die Personen werden einem vertraut und man entwickelt Mitgefühl für die einzelnen Charaktere. Plötzlich nimmt man die Schlägereien als gegeben hin. Man beginnt die Beweggründe der Charaktere zu verstehen. Man wird diese Beweggründe jedoch niemals gutheißen.

Quelle: Unsplash/Naphtali Marshall
Philipp Winkler entführt den Leser in eine völlig fremde Welt. Dies macht sich allein schon in seinem Sprachstil bemerkbar, der diesen Roman sehr authentisch wirken lässt. Er lässt seine Charaktere in einer sehr derben Sprache miteinander kommunizieren. Ist das verwendete Vokabular typisch für die Jugendsprache oder für das Milieu, indem die Handlung angesiedelt ist? Wahrscheinlich von beidem etwas. Zumindest tauchen Begriffe auf, die auf mich (50+) fast schon exotisch wirken. Das macht das Lesen für mich zu einem besonderen Erlebnis, da ich bisher noch nichts gelesen habe, das diesem eigenwilligen Sprachstil auch nur annähernd ähnelt.

Es gibt besondere Momente in diesem Buch, in denen das Geschehen sehr bildhaft dargestellt wird. Winkler versteht es, den Leser in diesen Momenten in ganz besondere Stimmungen zu versetzen. Da sind auch viele Wohlfühl-Momente dabei. Zum Beispiel schildert er den Augenblick, als Heiko seine schlafende Freundin beobachtet. Ein sehr  berührender Moment, der allerdings von jetzt auf sofort mit nur einem einzigen Wort zerstört wird:
"Von der Tür aus kann ich ihre Rippen zählen und deutlich den Knochen des Schlüsselbeins unter der Haut schimmern sehen. Ich atme ganz flach. Die Katze schnurrt hinter mir im Flur. Sie hat sich die Haare geschnitten. Eine Strähne ihres Ponys ist rot getönt. Ihre Lider sind geschlossen. Sie schläft wie eine Leiche." (S. 274)
Die Stimmung kippt und auf einmal wird aus einem Wohlfühl-Moment etwas Hässliches. Und insbesondere wenn Heiko diese Szenen erlebt, bestätigt sich einmal mehr seine Perspektivelosigkeit. Sein Leben kann nicht schön sein. Menschen wie er sind chancenlos.

Aber sind sie das wirklich? Winkler lässt das Ende der Geschichte offen. Er bietet Heiko die Möglichkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Was er am Ende daraus macht, bleibt der Fantasie des Lesers überlassen.

Fazit:
Hool“ ist ein Roman, der in diesem Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises zu finden war und allein durch seine Thematik herausstach. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mich für einen Roman mit diesem Thema begeistern könnte. Aber genau das ist eingetreten. Indem Winkler seinen Fokus auf die einzelnen Charaktere seines Buches legt, bekommt die Geschichte etwas Tiefgründiges, das ich bei diesem Thema nicht erwartet hätte. Der Leser arrangiert sich mit der Gewalt in diesem Buch. Stattdessen gerät die Entwicklung der Charaktere in den Mittelpunkt. Diese krasse Verbindung aus hohler Gewalt und Tiefgründigkeit machen dieses Buch daher für mich zu einem der ungewöhnlichsten und besten Bücher in 2016.

© Renie

ISBN: 978-3-351-03645-4 



Über den Autor:
Philipp Winkler, 1986 geboren, aufgewachsen in Hagenburg bei Hannover. Studierte Literarisches Schreiben in Hildesheim. Lebt in Leipzig. Auslandsaufenthalte im Kosovo, in Albanien, Serbien und Japan. Neben Veröffentlichungen in Literaturmagazinen und -anthologien, erhielt er 2008 den Joseph-Heinrich-Colbin-Preis und 2015 für Auszüge aus Hool den Retzhof-Preis für junge Literatur des Literaturhauses Graz. „HOOL“ ist sein Debütroman. (Quelle: Aufbau)



Donnerstag, 8. Dezember 2016

Christoper Buckley: Chaos im Weißen Haus - Liebe, Macht & Mr. President

Christopher Buckley hat mit "Chaos im Weißen Haus" eine Polit-Satire geschrieben, mit der er seine Erfahrungen aus seiner Tätigkeit als Redenschreiber für George Bush senior verarbeitet. Buckley weiß also, wie amerikanische Politik funktioniert. In diesem Roman, den er 1986 veröffentlicht hat - also noch vor der Amtszeit von George Bush sen. (1989 bis 1993) plaudert er aus dem Nähkästchen. Er verschafft dem Leser ein Bild vom Weißen Haus, das so gar nichts mit dem Ehrfurcht einflößenden Zentrum der Macht zu tun hat, sondern eher an eine Tummelwiese für große Kinder erinnert, die sich in Spielchen der Macht und Intrigen versuchen. 

Quelle: Louisoder
Der Inhalt ist schnell zusammengefasst: Es geht um die Amtszeit des fiktiven Präsidenten Tucker, der in diesem Roman die Nachfolge von Ronald Reagan antritt. Die Geschichte beginnt mit dem Tag der Amtseinführung von Tucker. Der Verdacht, dass es sich bei Tucker um das Alter Ego von George Bush handelt, liegt zwar nahe, lässt sich aber schnell entkräften. George Bush war von 1989 an Präsident der Vereinigten Staaten. Buckley hat dieses Buch aber bereits 1986 geschrieben. Da hat Bush wahrscheinlich von der Präsidentschaft geträumt, war aber tatsächlich noch ein paar Jährchen davon entfernt. Hinzu kommt, dass Buckleys Präsident Tucker Demokrat ist, daher auch von der politischen Gesinnung her wenig mit George Bush gemein hat. Und doch neigt man immer wieder dazu, Parallelen zu realen bekannten Politikern zu suchen.
"So begann eine Freundschaft, die mein Leben wie nichts anderes bereicherte - abgesehen von der Religion und meiner Familie. Ich wusste vom ersten Augenblick an, dass ich es mit einem jungen Mann zu tun hatte, der für Großes bestimmt war. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ich unterstützte ihn als Finanzverwalter seiner erfolgreichen lokalpolitischen Wahlkämpfe. Und ich wurde zu einer Art von persönlichem Adjutanten ohne offizielles Mandat, kümmerte mich um die persönlichen Angelegenheiten wie Reisen und Unterkunft und sorgte dafür, dass der Haushalt reibungslos lief. Hätte ich einen Waffenrock getragen, so hätte darauf gestanden: SEMPER IBI. Für immer da." (S. 27)
Buckley beschreibt Tuckers Legislaturperiode aus der Sicht von Herb Wadlough, einem alten Buddy von Tucker, der ihn seit Beginn seiner politischen Laufbahn begleitet und unterstützt hat. Wadlough zieht mit Tucker ins Weiße Haus, wo er zunächst als engster Berater für Mr. President fungiert. Dabei muss er sich gegen diverse Mitstreiter aus dem Mitarbeiterstab behaupten. Die Mitarbeiter Tuckers sind im Umgang miteinander nicht gerade zimperlich. Jeder von ihnen versucht, ein mögliches großes Stück vom Machtkuchen abzubekommen und neidet den Kollegen ihre Positionen und damit verbundenen Privilegien aufs Übelste. Da wird mit sämtlichen Waffen gekämpft. Intrigen und Schikanen sind an der Tagesordnung. Die Mitarbeiter haben einen höllischen Spaß daran, sich gegenseitig in die Pfanne zu hauen und sind auch im Umgangston miteinander nicht zimperlich. Das hat für den Leser schon einen sehr hohen Unterhaltungswert, wenn mal wieder zwei Stabsmitglieder aufeinander prallen und sich deftige Wortgefechte liefern. 
"Ich spürte, dass es sich um einen historischen Augenblick handelte: ein Mann grübelte über seine ungeheure Machtfülle und die Kräfte, die in den kommenden Jahren auf ihn einwirken würden. 'Dieses Haus könnte aus uns allen Arschlöchern machen.'" (S. 35)
Tucker wird von Wadlough als visionärer Präsident beschrieben, der nach der Reagan Ära frischen Wind ins Weiße Haus bringt. Er stellt ihn als einen unkonventionellen und pragmatischen Macher dar, der ein Freund klarer Worte ist und Schmeicheleien verabscheut. Tucker hat geschworen, sich niemals von der Macht vereinnahmen zu lassen und dadurch zu riskieren, seine Bodenständigkeit zu verlieren. Aber ein Mann in seiner Position kann wahrscheinlich gar nicht anders. Er wird von zig Beratern umschwärmt wie die Motten das Licht. Da fällt es schon schwer, zwischen Aufrichtigkeit, Intrige und Schmeichelei zu unterscheiden. Mit der Zeit verändert ihn das Amt. Auf einmal wird er anfällig für Lobhudelei. Wer viel Widerstand erfährt - das bringt die Politik nun mal mit sich - freut sich am Ende wahrscheinlich über jedes nette Wort. Wadlough, einer der wenigen, die Tucker gegenüber aufrichtig sind und sich nicht scheuen, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, wird zum Opfer von Tuckers charakterlicher Veränderung. Irgendwann wendet sich Tucker von ihm ab. Wadlough wird in den Ostflügel des Weißen Hauses verbannt.
Das Weiße Haus ist in zwei Machtzonen unterteilt: Der Westflügel – der Arbeitsbereich des Präsidenten. Hier wird Politik gemacht. Man sollte meinen, dass dies das Zentrum der Macht ist. Wenn da nicht der Ostflügel wäre. Hier befinden sich die Wohnräume von Präsident Tucker und seiner Familie. Und hier residiert die First Lady. Als Leser bekommt man schnell mit, wer das eigentliche Sagen im Weißen Haus hat: Jessica Tucker, Schauspielerin, sehr attraktiv, sehr energisch, sehr eigensinnig und äußerst kompromisslos bei der Umsetzung ihrer Ziele. Der Präsident befindet sich auf ständiger Gratwanderung zwischen den Ansprüchen und Interessen seiner First Lady und den Interessen des Landes.

Quelle: Unsplash/Jakob Owens
Nachdem Herb Wadlough beim Präsidenten in Ungnade gefallen ist – seine Mitstreiter im Stab des Präsidenten haben nicht unwesentlich dazu beigetragen - wird er der First Lady als persönlicher Assistent zugewiesen. Kein schlechter Job für ihn, zumal die beiden ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. Und dennoch wurmt es Herb, dass er von seinen Konkurrenten im Mitarbeiterstab des Präsidenten ausgebootet worden ist. Der Kleinkrieg zwischen Herb und seinen Gegnern geht weiter. Denn Herb setzt alles daran, wieder seine alte Position als rechte Hand des Präsidenten einzunehmen.

Herb und den Präsidenten verbindet ein merkwürdiges Verhältnis. Herb hat Tucker von Anfang an begleitet und sieht den Präsidenten als seinen Freund an. Tucker macht das, was ein Machtmensch gerne macht: er scharrt seine Anhänger und Vertrauten um sich und verteilt seine Aufmerksamkeit und Zuneigung je nach Bedarf und Laune. Leider braucht er Herb nicht immer, es gibt genug andere Berater. Wenn jedoch eine Krise oder unangenehme Aufgabe ansteht, muss Herb wieder ran und die Kohlen aus dem Feuer holen. Wie ein Hund hängt er an seinem Herrchen Tucker, lässt sich von ihm bestrafen und streicheln. Man hat den Eindruck, dass er sich des entwürdigenden Verhältnisses durchaus bewusst ist. Aber seine Treue und Freundschaft zum Präsidenten überwiegt alles und lässt ihn vieles aushalten.
"Die verschiedenen Büros oder 'Shops' im Weißen Haus haben eine gewisse Ähnlichkeit mit feudalen Herzogtümern oder Baronaten. Ihre Revierkämpfe und Streitigkeiten untereinander kosten sie nahezu ebenso viel Zeit wie der eigentliche Dienst an ihrem Vaterland. Das ist traurig, aber eine Tatsache im Weißen Haus." (S. 40)
Aus der Sicht von Herb Wadlough werden viele Einzelepisoden mit den unterschiedlichsten Würdenträgern und Mitarbeitern des Weißen Hauses wiedergegeben. Stellenweise habe ich mich gefragt, wem Buckley im wirklichen Leben eins auswischen möchte. Denn die Protagonisten in seinem Buch stehen fürchterlich unter Beschuss seines bitterbösen Humors. Zwischenzeitlich habe ich einige Charaktere gegooglet, habe aber selten jemanden verifizieren können. Daher gehe ich davon aus, dass die Vielzahl der unterschiedlichen Figuren in diesem Roman eine Mischung aus fiktiven und realen Charakteren ist. Aber egal, ob fiktiv oder wirklichkeitsgetreu, dieser Roman ist zum Brüllen komisch. Ich empfehle daher, dieses Buch im stillen Kämmerlein zu lesen. Andere könnten sich durch die Lacher, die man bei der Lektüre von sich gibt, gestört fühlen. Ich musste mir einige Male irritierte Blicke und blöde Bemerkungen von meinen Mitmenschen gefallen lassen ;-)
"Ich gab ihm zu verstehen, dass mir die Gesundheit des Präsidenten zwar mehr am Herzen lag als die meiner Mutter, ich aber dennoch nicht erlauben würde, dass die Luftwaffe dem Hamster des Präsidentensohnes den Kopf abschnitt. Auf dem Flur kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, in deren Verlauf es notwendig wurde, dem Major deutlich zu machen, dass die Angelegenheit erledigt wäre; und wenn er diese unumstößliche Tatsache nicht akzeptierte, er seine Kenntnisse der Verfassung in der Ruhe und Abgeschiedenheit einer unserer Raketenabschussrampen auf Grönland auffrischen könnte." (S. 210 f.)
Die Lektüre von Buckleys Roman hat auf mich insbesondere wegen der Päsidentschaftswahlen in Amerika einen riesengroßen Reiz auf mich ausgeübt. Ich wollte wissen, wie man sich den Alltag im Weißen Haus vorstellen muss. Buckley hat eine urkomische Satire geschrieben, die an vielen Stellen übertrieben sein mag. Aber wie in jeder guten Satire, gibt es doch eine große Portion Wahrheit. So wie sich Donald Trump vor Kurzem in seinem Wahlkampf präsentiert hat, passt er hervorragend in das Tohuwabohu von Buckleys Version des Weißen Hauses. Viele Kindereien und Machtspielchen aus diesem Buch sind Trump durchaus zuzutrauen. Ich möchte mir eigentlich gar nicht vorstellen, was Trump alles anstellen könnte ....

Fazit:
Ich habe selten so viel gelacht wie bei diesem Buch. Christopher Buckleys Humor ist sehr bissig und hemmungslos. Dadurch vermittelt er ein Bild des Alltags im Weißen Haus, von dem man hofft, dass ganz viel Fantasie im Spiel ist. Wehe den Amerikanern und dem Rest der Welt, wenn dem nicht so ist!

© Renie




Chaos im Weißen Haus von Christopher Buckley, erschienen im Louisoder Verlag (2014)
ISBN: 978-3-944153-05-6




Über den Autor:
Christopher Buckley verarbeitet in Chaos im Weißen Haus (Originaltitel: The White House Mess) seine Erfahrungen als Redenschreiber von George Bush senior. Der Autor von 14 Büchern, unter anderem Thank You For Smoking, das 2006 von Jason Reitman bei 20th Century Fox fürs Kino verfilmt wurde, war Chefredakteur des Esquire und feiert Erfolge mit politischen Satiren. (Quelle: Louisoder)

Donnerstag, 1. Dezember 2016

Emma Healey: Elizabeth wird vermisst

Zum Thema "Alzheimer" sind schon viele Romane veröffentlicht worden. Ich habe bereits einige dieser Bücher gelesen. Aber bisher habe ich noch keines gefunden, das wie dieses ist: Elizabeth wird vermisst von Emma Healey.


Dieses Buch als reinen "Alzheimer-Roman" zu bezeichnen, wäre eine dicke Untertreibung. Denn tatsächlich macht Emma Healey aus ihrer Hauptprotagonistin Maud, so etwas wie eine Ermittlerin, die sich trotz Alzheimer-Handycap auf die Suche nach ihrer plötzlich verschwundenen Freundin Elizabeth macht. Somit wird dieser Roman zu einer außergewöhnlichen Mischung aus Krimi und Gegenwartsliteratur zum Thema "Alzheimer"

Quelle: Bastei Lübbe
Klappentext
Elizabeth wird vermisst. Von Maud. Sie ist überzeugt, dass ihre Freundin verschwunden ist. Aber niemand glaubt ihr - schließlich leidet sie an Alzheimer und hat schon große Mühe, ihren Alltag zu bewältigen. Doch Maud gibt nicht auf, und gemeinsam mit ihr machen wir uns auf die Suche nach Elizabeth. Dabei erfahren wir auf beeindruckende Art und Weise, was es heißt, wenn einem das eigene Leben entgleitet. (Quelle: Bastei Luebbe)

Maud ist also an Alzheimer erkrankt. Die Geschichte wird aus ihrer Perspektive erzählt. Anfangs ist Maud noch klar im Kopf. Nur gelegentlich wird sie von ihrem Gedächtnis im Stich gelassen. Doch mit der Zeit und fortlaufender Handlung, verliert sie sich immer mehr in ihren Erinnerungen und kann Gegenwart und Vergangenheit kaum noch auseinanderhalten.

Maud lebt allein und wird von ihrer Tochter Helen und ihrer Enkelin versorgt. Anfangs werden sie noch von einer Pflegekraft unterstützt. Maud wird immer verwirrter und plötzlich ist der Zeitpunkt gekommen, an dem man Maud nicht mehr allein lassen darf. Helen holt sie daher zu sich.
"Eigentlich brauche ich meine Brille nur zum Lesen, aber ab einem bestimmten Alter erwarten die Leute, dass man sie ständig trägt. Sie ist irgendwie Teil der Uniform. Wie sollten sie sonst auch erkennen, dass du eine alte Schachtel bist? Sie wollen die richtigen Requisiten sehen, damit sie dich sofort von anderen Menschen unterscheiden können, die den Anstand haben, noch unter siebzig zu sein. Gehstock, Gebiss, Hörgerät, Brille. Ich habe alles." (S. 45)
Die Gedächtnislücken Mauds führen häufig zu merkwürdigen Situationen. Teilweise lacht man über die Dinge, die Maud widerfahren. Aber größtenteils überwiegt beim Lesen die Betroffenheit über die Hilflosigkeit von Maud und ihren Angehörigen.

Maud hat eine alte Freundin: Elizabeth, die ein paar Häuserblocks weiter wohnt. Die beiden Frauen haben sich regelmäßig getroffen. Aber Maud ist der Meinung, dass Elizabeth verschwunden ist. Ob es tatsächlich so ist, oder ob Mauds Geisteszustand ihr einen Streich spielt? Man weiß es nicht. Von ihrem Umfeld wird Maud nicht ernst genommen. Das Verschwinden von Elizabeth wird als fixe Idee abgetan. 

Trotz ihrer Erkrankung stellt Maud Nachforschungen an, was sich als schwierig herausstellt. Denn sie kann sich nichts merken, vergisst von einem Moment auf den anderen, wo sie sich befindet, warum sie sich dort befindet, mit wem sie gesprochen hat, worüber sie gesprochen haben ….. Also beginnt sie, sich Dinge auf kleine Zettelchen zu notieren, die sie mit sich herumträgt. Nur leider lässt sie auch hier ihr Gedächtnis im Stich, zumal sie ständig vergisst, was es mit den Zettelchen auf sich hat.

"Aber diese Papierschnipsel auf dem Tisch nebem meinem Sessel, dieses Erinnerungssystem, es ist nicht perfekt. So viele dieser Notizen sind durcheinander. Und selbst die neueren scheinen nicht die richtigen Informationen zu enthalten. Da ist eine, bei der die Tinte noch nass ist: 'Ich habe nichts mehr von Elizabeth gehört.' Ich streiche mit den Fingern über die Worte und verschmiere sie ein wenig. Stimmt das? Ich muss es gerade erst geschrieben haben, ....." (S. 23)

Quelle: unsplash/Eduard Militaru
Als Leser wird man den Verdacht nicht los, dass irgendetwas dran sein muss an dem Verschwinden von Elizabeth. Aber Maud verliert sich immer mehr in ihrer Verwirrtheit und der Alltag wird immer beschwerlicher. Sie kann Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr auseinanderhalten. Durch ihre Erinnerungen lernt man eine Maud kennen, wie sie als junges Mädchen war. Und tatsächlich wird man durch einen weiteren Vermisstenfall, der in der Mauds Jugend seinen Anfang nahm, überrumpelt. Maud vermischt die beiden Vermisstenfälle. Doch für den Leser tritt die Suche nach Elizabeth in den Hintergrund und der Fall aus Mauds Jugend wird das bestimmende Thema.

Das Ende dieses Romans ist ein Kracher. Man hat mit allem gerechnet, nur nicht mit diesem Ende. Und so ganz nebenbei erfährt man, was mit Elizabeth passiert ist.

"Ich habe das Gefühl, als würde ich mich von innen heraus auflösen." (S. 226)



Fazit:
Ich bin begeistert von diesem Roman. Was als ein Roman über Alzheimer beginnt, wird zum Ende dermaßen spannend, dass man das Buch nicht aus der Hand legen möchte. Hinzu kommt, dass das Thema „Alzheimer“ sehr sensibel und respektvoll behandelt wird. Und diese Mischung aus Spannung und Sensibilität machen diesen Roman zu etwas ganz Besonderem.

© Renie


Elizabeth wird vermisst von Emma Healey, erschienen bei Bastei Lübbe
Erscheinungsdatum: März 2014
ISBN: 978-3-7857-6110-6



Über die Autorin:
Emma Healey wuchs in London auf. Nach der Schule machte sie eine Ausbildung zur Buchbinderin. Doch als ihr die Buchherstellung nicht mehr ausreichte, legte sie 2011 noch einen Master in Kreativem Schreiben an der University of East Anglia ab. Elizabeth wird vermisst ist ihr erster Roman, den sie mit gerade mal 28 Jahren vorgelegt hat.