Sonntag, 27. November 2016

Karel Čapek: Der Krieg mit den Molchen

Quelle: Wikimedia Commons / FunkMonk
Es war einmal ein Riesenmolch der Spezies Andreas Scheuchzeri. Der lebte vor zig Millionen Jahren in Mitteleuropa. Mittlerweile ist er jedoch ausgestorben. Doch Karel Čapek ließ ihn in seinem Roman "Der Krieg mit den Molchen", den er 1936 geschrieben hat, wieder auferstehen. Bei Čapek haben es die Riesenmolche bis nach Indonesien geschafft. Auf der Insel Tana Masa nimmt Čapeks Geschichte um die Riesenmolche ihren Anfang. Dabei skizziert der Autor ein satirisches Endzeitszenario, das erschreckend viele Parallelen zu unserer heutigen Gesellschaft aufweist.
In der vorliegenden Ausgabe der Edition Büchergilde hat der Künstler Hans Ticha die Gesamtgestaltung des Buches übernommen. Diese Kombination aus bemerkenswertem Roman und hervorragender künstlerischer Arbeit machen aus diesem Buch ein Kultbuch.

Worum geht es?
Kapitän van Toch entdeckt auf einer Insel nahe Sumatra geheimnisvolle Tiere, die zunächst harmlos und primitiv wirken: Die Tiere besitzen besondere Fähigkeiten, die sich der Mensch zunutze machen könnte. Sie sind extrem widerstands- und anpassungsfähig. Darüberhinaus vermehren sie sich in einem atemberaubenden Tempo. Obwohl die Tiere unter Wasser leben, sind sie doch in der Lage, sich für eine begrenzte Zeit an Land aufzuhalten. Die Tiere lernen schnell mit Werkzeugen umzugehen und verrichten bald riskante Arbeiten für den Kapitän, wie z. B. das Perlenfischen. Der Kapitän wittert eine enorme Einnahmequelle und versucht, die entdeckten Molchkolonien auszubauen. Leider fehlen ihm noch die finanziellen Mittel, so dass er sich einen Geldgeber suchen muss. Dabei gerät er an einen Industriellen, der ebenfalls ein riesiges Potenzial in diesem Geschäft sieht und seine geschäftlichen Energien fortan der Professionalisierung der Molchzucht widmet. 
Mit der Zeit wird die Erde mit Molchen überschwemmt. Auf nahezu allen Erdteilen werden Molche angesiedelt und von den Menschen als billige Arbeitskräfte in sämtlichen Industriebereichen genutzt. Die Molche sind anspruchslos in der Haltung. Durch die Fortpflanzungsfreude der Tiere ist auch für ständigen Nachschub gesorgt. Die Welt erkennt schnell, dass Molche wichtiges „Material“ sind, um den Wohlstand der Erde zu garantieren. Dadurch werden die Tiere zur Handelsware – ähnlich wie Sklaven -, und werden sogar an einer eigenen Börse gehandelt. Mit steigendem Wert und Nutzen der Tiere beginnt schnell  ein weltweiter Kampf um die Molche, der in manchen Erdteilen in Krieg ausartet. Sowie die Molche gelernt haben, mit Werkzeugen umzugehen, haben sie natürlich auch gelernt, Waffen zu benutzen. Die Molche werden in den Krieg geschickt. Aber wie in jedem Sklaventum, setzen sich die Unterdrückten irgendwann zur Wehr. Auf einmal wenden sich die Molche gegen ihre Ausbeuter und Unterdrücker. 
"Kurz, im Gegensatz zu der menschlichen Besiedlung der Welt wurde die Verbreitung der Molche planmäßig und großzügig durchgeführt; der Natur überlassen, hätte sie sich gewiss über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hingeschleppt; nein, die Natur war nie so unternehmend und zweckbewusst wie die menschliche Fabrikation und der menschliche Handel." (S. 160 f.)
Čapek hat mit seinem Roman eine Satire geschrieben, die die Menschheit in ihrer ganzen Überheblichkeit und Dummheit aufs Korn nimmt. Der Traum von Macht und Reichtum auf Kosten anderer, macht den Menschen maßlos und blind gegenüber sämtlicher Risiken. In Anlehnung an die damalige politische Situation (Čapek hat den Roman 1936 geschrieben), findet man natürlich viele Parallelen zum Nationalsozialismus und Rassenwahn. Da sich der Mensch nicht ändert - auch wenn der Wille da sein mag - passt Čapeks Gesellschaftskritik uneingeschränkt in die heutige Zeit und ist aktueller denn je.
"Je größer der Herr, desto weniger steht bekanntlich auf dem Schild an seiner Tür." (S. 35)
Dieser ungewöhnliche Roman ist in 3 Teile gegliedert. Im ersten Teil - "Andreas Scheuchzeri" - geht es um die Entdeckung der Molche durch Kapitän van Toch und den Anfängen des Geschäftes mit den Molchen. Der 2. Teil - "Stufe um Stufe zur Zivilisation"  - konzentriert sich auf die Entwicklung der Molche. Angefangen bei dem ursprünglichen Lebensraum bis hin zur Molchzivilisation. Molche sind sprachbegabt, haben künstlerische Talente, sind in den Naturwissenschaften bewandert. Die Molche haben es drauf, und stehen dem Menschen in Nichts nach. Wen wundert es da, wenn in Teil 3 - " Der Krieg mit den Molchen" - die Molche zu einer Bedrohung für die Menschheit werden. Die Frage der Molche nach dem Herrschaftsanspruch der Menschen scheint durchaus berechtigt. 
"... und weil diese Molchschulen nicht mit den alten klassischen Traditionen der menschlichen Schulen belastet waren, sondern die neuesten Methoden der Psychotechnik, der technologischen Erziehung, der vormilitärischen Ausbildung und andere letzte Errungenschaften der Pädagogik anwenden konnten, entwickelten sich aus ihnen bald das modernste, wissenschaftlich fortgeschrittenste Schulwesen der Welt, das mit Recht Gegenstand des Neides aller menschlichen Pädagogen und Schüler war." (S. 195)
Die Ausgabe der Edition Büchergilde ist sehr fantasievoll gestaltet. Die Illustrationen von Hans Ticha sind ein Blickfang. Die Zeichnungen sind sehr plakativ gehalten und enthalten viele Elemente der Pop Art. In Anlehnung an die Bilder von Roy Lichtenstein finden sich einige Illustrationen, die dem Buch eine gewisse Dramatik verleihen.
Im Mittelpunkt dieser Illustrationen steht natürlich der Molch. 
Ticha verleiht ihm eine große Portion Menschlichkeit: Aufrechtstehen, Gesichter, Arme und Hände. Man hat von Anfang an den Eindruck, dass der Molch nicht so blöd ist, wie er von den Menschen gern dargestellt wird. 
Bemerkenswert ist auch Hans Tichas Gesamtgestaltung des Buches. Neben den Illustrationen gibt es ein Sammelsurium an Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Arbeiten, Gesprächsprotokollen, Briefen und vieles mehr, selbstverständlich alle fiktiv. Allein die unterschiedlichen Druckbilder und Schriftarten dieser Textvielfalt machen die Gestaltung dieses Buches so einzigartig.
Die unterschiedlichen Textformen und farbenprächtigen Illustrationen bringen den Leser dazu, sich bei der Lektüre sehr viel Zeit zu lassen und sich gern in dem Buch zu verlieren.  

Fazit
Diese Satire zeichnet sich durch ihre Zeitlosigkeit aus und macht sie aufgrund ihrer Gesellschaftskritik aktueller denn je. Karel Čapeks Humor bringt den Leser auch 80 Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung seines Buches zum Lachen. Der Künstler Hans Ticha hat nicht nur dieses Buch illustriert sondern ist für die Gesamtgestaltung verantwortlich. Seine Arbeit an diesem Buch erstreckte sich über einen Zeitraum von 10 Jahren. Mit seinen plakativen Illustrationen und der Verwendung unterschiedlichster Textformen  wird ein lesenswerter Klassiker zu einem absoluten Kultbuch.

© Renie

ISBN: 978-3-86406-077-9


Über den Karel Čapek und Hans Ticha:
Karel Capek, 1890 – 1938, zählt zu den bedeutendsten tschechischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Nach einem Philosophiestudium arbeitete er als Journalist und Dramaturg. Früh thematisierte er die Bedrohung durch Diktaturen, warnte vor Faschismus und Nationalismus und lehnte den Kommunismus ab. Er hinterlässt Erzählungen, Romane, Th?eaterstücke, Reiseberichte und Feuilletons.

Hans Ticha, geboren 1940, studierte an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Für die Büchergilde illustrierte er u. a. Werke von Ernst Jandl, Erich Kästner und Joachim Ringelnatz. Seit 1970 arbeitet er als freischaffender Künstler. Für die von ihm illustrierte, 1987 in der DDR und 1989 in der Büchergilde erschienene Capek-Ausgabe kämpfte er über zwölf Jahre.

Sonntag, 20. November 2016

Ian McEwan: Nussschale

Als ich das erste Mal hörte, worum es in dem aktuellen Roman von Ian McEwan geht, hatte ich doch erhebliche Zweifel, ob dieses Buch etwas für mich ist. Dafür hörte sich die Story, die hier erzählt wird, einfach zu merkwürdig an: ein ungeborenes Kind erzählt aus dem Mutterbauch heraus, wie seine Mutter und ihr Liebhaber den Vater beseitigen wollen. Wie kann solch eine schräge Geschichte funktionieren? Aber McEwan macht es möglich. Die Geschichte funktioniert sogar erstaunlich gut, was nicht nur an dem herausragenden Sprachstil des Autors liegt.
Quelle: Diogenes
Worum geht es in diesem Roman?
Wie bereits erwähnt planen die hochschwangere Trudy und Claude den Tod von Trudies Mann John. Belauscht werden sie dabei von dem Kind im Mutterbauch. In seiner mittlerweile doch sehr engen Behausung bekommt es Trudies und Claudes Pläne zur Beseitigung Johns im Detail mit. Vom Beginn seiner Entwicklung an, nimmt es sämtliche Geräusche wahr. Angefangen beim Herzschlag der Mutter, aus dem das Kind ihre jeweilige Stimmungslage interpretieren kann, Radio- und Fernsehsendungen, die zur Gestaltung seines Weltbildes beitragen, bis hin zu den Gesprächen zwischen Trudy, Claude und John. Man wundert sich, wieviel Lebensweisheit und Philosophie sich innerhalb kürzester Zeit anhand von Radio- und Fernsehprogrammen in einem Menschlein heranbilden kann.
Der Roman ist natürlich aus der Sicht des Ungeborenen geschrieben, das streckenweise über den Sinn seines anstehenden Lebens philosophiert. Das mag an manchen Stellen zu viel des Guten sein. Doch in weiten Teilen lässt man sich von dem Gedankenspiel des Kindes mitreißen. Erstaunlicherweise erscheint das Ungeborene in seinen Ansichten und seiner Sprachkompetenz fähiger und erfahrener zu sein als die Erwachsenen.
"Ich teile mir gern ein Glas Wein mit meiner Mutter. Womöglich haben Sie es längst vergessen oder auch nie erlebt, wie herrlich ein durch die Plazenta dekantierter Burgunder schmeckt (die mag sie am liebsten) oder ein Sancerre (mag sie ebenfalls)." (S. 17)
Die Welt, in die das Kind hineingeboren werden soll, ist nicht sehr ansprechend. Das Haus ist verkommen und Trudy ist eine Schlampe, die sich nicht daran stört, in Müll und Chaos zu leben. Schwangerschaft hin oder her, sie genehmigt sich gern ein paar Gläschen Wein. Claude steht ihr darin in nichts nach.
Das Kind verabscheut Claude, den Liebhaber seiner Mutter - nicht nur, weil es das Liebesspiel von Trudy und Claude notgedrungen ertragen muss (in Mutters Bauch ist es eng geworden ;-)), sondern auch, weil Claude nicht besonders helle ist und das Risiko besteht, dass dieser nach Johns Ableben die Rolle des Stiefvaters einnehmen wird. Mit der Mutter verbindet das Kind eine Zweckbeziehung. Einerseits kann es ihr Vorhaben, seinen Vater umzubringen, nicht tolerieren. Andererseits ist es ihr ausgeliefert. Sie hält es am Leben und ist der einzige Mensch, der für es da ist - wenn auch gezwungenermaßen. Es liebt seine Mutter. Wen soll es auch sonst lieben?
So verbringt das Kind die letzten Tage der Schwangerschaft im Mutterbauch und sinniert darüber, was ihm die Zukunft bringt und ob sein Leben überhaupt lebenswert sein wird.
"Könnte meine Mutter, die noch nie eine feste Stelle hatte, es als Mörderin zu etwas bringen? Ein harter Job, nicht bloß in der Planung und Durchführung, sondern auch hinterher, wenn die Karriere eigentlich beginnt. Denk doch, möchte ich ihr zurufen, wenn schon nicht an die Moral, dann an die Unannehmlichkeiten: Gefängnis oder Schuldgefühle, möglicherweise auch beides. Überstunden, Wochenend-, Nachtschichten, dein Leben lang. Keine Bezahlung, keine Vergünstigungen, keine Rente, nur Reue. Sie macht einen Riesenfehler." (S. 117)
Als Leser erlebt man die Vorbereitung auf das Verbrechen als stiller Zuhörer durch die Ohren des Ungeborenen. Da bleibt viel Raum für Spekulationen, denn schließlich können Ohren trügen. Die Spekulationen ziehen sich durch den kompletten Roman. Machen Trudy und Claude tatsächlich von ihrem Plan Gebrauch? Kommen Sie damit durch? Wie gut ist der Plan? Werden die beiden zur Rechenschaft gezogen? Ian McEwan hat es verstanden, ein geschicktes Verwirrspiel zu inszenieren, so dass man als Leser bis zum Schluss mit allem rechnet. Dabei brilliert er mit seiner unvergleichlichen Sprache. Er fabuliert nach Herzenslust, immer mit viel trockenem Humor und Sarkasmus. Er lässt kaum ein gutes Haar an seinen erwachsenen Charakteren. Einzig das ungeborene Kind kommt in seiner Hilflosigkeit und seinem Ausgeliefertsein gut weg.
"Kein Kind, erst recht kein Fötus, hat je die Kunst des Smalltalks gemeistert, würde es auch nie wollen. Smalltalk ist was für Erwachsene, ein Pakt mit Falschheit und Langeweile." (S. 94)

Fazit:
Als Leser muss man sich auf die ungewöhnliche Erzählperspektive dieses Romanes einlassen. Es gibt Momente, in denen man sich wundert, wie das Ungeborene manche Dinge außerhalb des Mutterbauches wahrnehmen kann. Man sollte dieses Szenario jedoch nicht in Frage stellen, sondern einfach als gegeben hinnehmen. Denn erst dann wird man richtig Spaß an diesem besonders humorvollen und spannenden Roman haben.

Ich schätze den besonderen Sprachstil von Ian McEwan und habe daher schon einige Bücher von ihm gelesen. Ich habe ihn jedoch noch nie als komischen Schriftsteller wahrgenommen. Doch genauso präsentiert er sich mit diesem Roman und es steht ihm richtig gut. Sein brillanter Sprachstil wird ergänzt durch einen trockenen Humor, der diesen Roman zu einem echten Lesehighlight machen.

© Renie

ISBN: 978-3-257-06982-2


Über den Autor:
Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er für ›Amsterdam‹ den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. Sein Roman ›Abbitte‹ wurde zum Weltbestseller und mit Keira Knightley verfilmt. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences. (Quelle: Diogenes)

Donnerstag, 17. November 2016

Lars Winter: Mondblond

Alles, was man für einen Krimi braucht, ist ein guter Anfang und ein Telefonbuch, damit die Namen stimmen.  
George Simenon, Schriftsteller
Als ob es so einfach wäre, einen Krimi zu schreiben. Und Krimi ist nicht gleich Krimi. Und wie wird aus einem Krimi ein guter Krimi? 
Der Autor Lars Winter hat es nicht bei einem gutem Anfang bewenden lassen. (Den Gebrauch des Telefonbuches möchte ich ihm gar nicht erst unterstellen ;-)) 
Er hat sehr viel Erfindungsgeist bei der Wahl seiner Tricks und Kniffe bewiesen, um aus seinem Buch Mondblond einen richtig guten und unterhaltsamen Krimi zu machen.

Mondblond ist der Einstieg in die Krimiserie um den Künstler im Polizeidienst Ulf Norden und dem weltlichen Pfarrer Klinger. Mittlerweile gibt es bereits zwei Nachfolgebände.

Worum geht es in "Mondblond"?
Nur wenige Stunden nach der Beerdigung des Architekten Arthur Norden findet man die Leiche einer jungen Frau. Wer war die geheimnisvolle Schöne mit dem mondblonden Haar, die keiner der Trauergäste zu kennen scheint? Wenige Tage später wird auf dem Pfarrhausgelände die Gemeindesekretärin ermordet. Zusammen mit dem außergewöhnlich weltlichen Pfarrer Klinger macht sich Ulf Norden, Künstler und Dozent an einer KLA-Akademie, auf die Suche nach den Zusammenhängen und dem dunklen Geheimnis, das beide Fälle miteinander verbindet. ... (Quelle: Wind und Sterne)

Da es nichts Schlimmeres gibt, als den Krimileser um Überraschungsmomente zu bringen, möchte ich es bei der Buchbeschreibung des Verlages belassen. Nur soviel: Im Verlauf der Handlung werden einige fantasievolle und farbenfrohe Morde stattfinden. Auch wenn sich die Opfer scheinbar nicht gekannt haben, muss es eine Verbindung geben. Es kristallisieren sich familiäre Verflechtungen heraus, die Ulf Norden dazu bewegen, Nachforschungen anzustellen, die ihn bis nach Sizilien und zurück in die Vergangenheit seines Vaters führen. Er findet dabei Unterstützung in Pfarrer Klinger. Hier scheint sich eine innige Männerfreundschaft zu entwickeln.
"Eigentlich mochte er lieber die sanfteren Seiten des Lebens. Er fand warmherzige Frauen sympathischer als dominante, zog jedes Klavierstück einem Rockkonzert vor und er trank viel lieber Rotwein statt Whisky. Aber gestern Abend musste es Whisky sein. ... Ebenso wenig wie es eine Alternative zu Leonard-Cohen-Musik und einem Bukowski-Buch gegeben hatte. Genau das brauchte er, wenn er wieder einmal meinte, die Menschheit wäre vor lauter Dummheit kurz davor, selbst den Schalter umzulegen." (S. 131)
Norden und Klinger bilden ein ungewöhnliches Gespann. Norden ist Dozent an der LKA Akademie in Hannover und unterstützt die dortige Kriminalpolizei bei ihrer Arbeit. Doch seine Leidenschaft gilt der Malerei, in der er großes Talent beweist. Seine künstlerischen Fähigkeiten helfen ihm bei seiner Arbeit. Wo sich andere Notizen machen, fertigt er Skizzen an, die ihm helfen, seine Gedanken zu sortieren. Liiert ist er mit Cecilia. Doch die Beziehung ist nicht einfach. Cecilia ist eine launische Frau, die ihm das Leben vermiesen kann. Trotzdem die beiden versuchen, die Beziehung aufrechtzuerhalten, wird man den Eindruck nicht los, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis die beiden getrennte Wege gehen.

Pfarrer Klinger ist ein unkonventioneller Geistlicher. Er ist – Familie sei Dank – stinkreich und von den schönen Dingen des Lebens angetan. Maserati, Kunstbesitz, teure Weine, gutes Essen - Klinger versteht es zu leben. Er beteiligt sich sehr engagiert am Gemeindeleben und scheint sein Leben als Luxus-Pfarrer zu genießen. Es sei ihm gegönnt, zumal sein Reichtum sich nicht negativ auf seine Bodenständigkeit und Menschenfreundlichkeit ausgewirkt hat.

Norden und Klinger gehen sehr ungezwungen miteinander um. Die Chemie zwischen den beiden stimmt einfach. Ihre Gespräche sind sehr erfrischend und kurzweilig. Der entspannte Umgangston, den die beiden pflegen und das ungezwungene Miteinander haben einen sehr hohen Unterhaltungswert.
"Wortfetzen schossen ihm durch den Kopf, jeder für sich bedeutungslos, aber richtig zusammengesetzt ergaben sie ein Bild - das Bild eines Mörders und seines Motivs. Die Villa Giardino, die Weißen Spiegel, ein Testament, ein Kruzifix, der Familiensinn von Hamstern, SMS-Nachrichten von Toten. So viele Hinweise und so viele Mosaiksteine. Er musste sie nur zusammensetzen und endlich die richtige Vorlage finden." (S. 264)
Der Krimi zeichnet sich durch sehr viel Fantasie des Autors aus. Zum Einen hat sich Lars Winter bei der Wahl der Tötungsmethoden als sehr erfinderisch erwiesen. Man wundert sich, welch skurrile Möglichkeiten es gibt, einen Menschen umzubringen. Zum Anderen nimmt die Handlung die unterschiedlichsten Wendungen und Verwicklungen an, die nicht vorhersehbar sind. Ich habe tatsächlich bis zum Schluss keinen Verdacht gehabt, wer für die Morde verantwortlich ist. Dadurch ist Spannung vom Anfang bis zum Ende garantiert.

Lars Winters Fantasie macht auch vor seinem Sprachstil nicht halt. Er scheint ein großer Freund ungewöhnlicher Metaphern zu sein. Normalerweise genieße ich eine bildhafte Sprache. Doch hier war es mir anfangs zu viel. Die Wortkreationen sind doch teilweise sehr gewöhnungsbedürftig. Hier ist ein Beispiel:
"Während sich die Sonne rot wie ein angeschossener Wal am Horizont ausblutete, kroch auf der anderen Seite des Himmels der frühe Mond über die Hügel." (S. 19)
Der Sprachstil ändert sich jedoch im Verlauf der Handlung. Metaphern tauchen nicht mehr in der Häufigkeit auf wie am Anfang des Buches. (Vielleicht habe ich mich zum Ende hin aber auch an diesen Sprachstil gewöhnt und die Vergleiche einfach nicht mehr wahrgenommen.)

Eine Besonderheit möchte ich noch hervorheben. Das Buch ist mit Illustrationen von Ralf Schlüter versehen. Diese sind perfekt auf die Handlung abgestimmt und begleiten die Geschichte mit einer eindringlichen Dramatik. Zieht man in Betracht, dass der Protagonist Norden seine Überlegungen zu den Mordfällen in Skizzen festgehalten hat, will man gerne glauben, dass Ralf Schlüters Illustrationen diejenigen von Norden sein könnten.

Fazit:
Sieht man über die Kleinigkeit der "besonderen" Metaphern hinweg, hat man es mit einem sehr unterhaltsamen Krimi zu tun, der sich durch Fantasie und einem gelungenen Aufbau auszeichnet. Durch seine dramatischen Illustrationen erhält der Leser noch etwas für das Auge. Mit Ulf Norden und Pfarrer Klinger hat Lars Winter zwei Figuren geschaffen, die wundervoll miteinander harmonieren und durchaus Lust auf weitere Romane aus dieser Krimiserie machen.

© Renie




Über den Autor:
1958 in Kassel geboren, kam über Henry Slezar, Cornell Woolrich und Agatha Christie früh mit Kriminalgeschichten in Berührung. Er schreibt und veröffentlicht unter dem Pseudonym Lars Winter Kriminalromane, Kurzgeschichten, Kinder- und Jugendbücher und betextet deutschsprachige Rock- und Popmusik. Er hat in den wilden Siebzigern Lyrik geschrieben, erotische Kurzgeschichten verfasst und versucht mit allen Sinnen ein Thema zu erfassen. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und wohnt in einer alten Villa in Deutschlands Provence. (Quelle: Wind und Sterne)




Donnerstag, 10. November 2016

Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis

Das erste Mal, dass ich einen Gewinner des Deutschen Buchpreises las! Bodo Kirchhoff hat mit seiner Novelle Widerfahrnis in diesem Jahr abgeräumt. Obwohl ich den Wettbewerb um den Deutschen Buchpreis immer mit Interesse verfolge, hat mich noch keiner der bisherigen Gewinnertitel zum Lesen gereizt. In diesem Jahr war das anders. Schon auf der Shortlist stach Kirchhoffs Novelle für mich hervor. Das Thema war für mich hochinteressant. "Kirchhoff erzählt in seiner großartigen Novelle von der Möglichkeit einer Liebe sowie die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein." (Quelle: FVA) Das hörte sich fast schon philosophisch an. Nun war ich auf die Umsetzung gespannt.

Klappentext:
Reither, bis vor kurzem Verleger in einer Großstadt, nun in einem idyllischen Tal am Alpenrand, hat in der dortigen Bibliothek ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur der Name der Autorin, und als ihn das noch beschäftigt, klingelt es abends bei ihm. Und bereits in derselben Nacht beginnt sein Widerfahrnis und führt ihn binnen drei Tagen bis nach Sizilien. Die, die ihn an die Hand nimmt, ist Leonie Palm, zuletzt Besitzerin eines Hutgeschäfts; sie hat ihren Laden geschlossen, weil es der Zeit an Hutgesichtern fehlt, und er seinen Verlag dichtgemacht, weil es zunehmend mehr Schreibende als Lesende gibt. Aber noch stärker verbindet die beiden, dass sie nicht mehr auf die große Liebe vorbereitet zu sein scheinen. Als dann nach drei Tagen im Auto am Mittelmeer das Glück über sie hereinbricht, schließt sich ihnen ein Mädchen an, das kein Wort redet, nur da ist ...

Liest man einen Buchpreis-Gewinner anders? Ich denke schon, zumindest habe ich ein anderes Leseverhalten an mir beobachtet. Ich war kritischer als sonst, habe nahezu jeden Satz akribisch unter die Lupe genommen. Denn schließlich wollte ich wissen, was Widerfahrnis zu dem macht, was es geworden ist - dem Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises 2016.

Widerfahrnis ist mit nichts vergleichbar, was ich in letzter Zeit gelesen habe. Das Herausragende an dieser Novelle ist definitiv Kirchhoffs Sprache. Ich brauchte ein paar Seiten, bis ich mich an seinen Stil gewöhnt hatte. Kirchhoff wählt seine Worte mit Bedacht und Präzision, nichts ist leichtfertig formuliert. Er denkt häufig über die Sinnhaftigkeit seiner Worte nach und hinterfragt seine eigene Wortwahl. Ich konnte gar nicht anders, als mich auf diese Gedankenspiele einzulassen und ebenfalls zu hinterfragen und zu deuten. Dadurch eröffnete sich eine Unmenge an Interpretationsspielraum, so dass ich nicht nur bei der Lektüre gut beschäftigt war, sondern mich auch dabei ertappt habe, auch ohne Buch Kirchhoffs Gedankengänge verstehen zu wollen. Allein dadurch habe ich diese Novelle mit Begeisterung gelesen. Denn ich liebe Bücher, die einen gedanklich herausfordern. 
"Jedes Wort sitzt, jeder Satz steht, und alle Sätze erschließen ein Stück Welt mit einer Sprache von so unplausibler Effektivität wie die der Mathematik für das Geschehen im Universum." (S. 108)
Der Fokus in Kirchhoffs Novelle liegt für mich eindeutig auf der Sprache. Die sprachliche Virtuosität Kirchhoffs hat mich schlichtweg umgehauen. Ich habe dieses Buch im Rahmen einer Leserunde bei Whatchareadin gelesen. Je tiefer man in die Geschichte eindrang, umso mehr stellte man fest, dass Widerfahrnis unterschiedlich wahrgenommen wird. Wo viel Interprationsspielraum ist, kommen auch viele Interpretationsansätze zusammen. Ich gehörte zu denjenigen, die die Geschichte nicht ganz überzeugen konnte. Für mich baut Kirchhoff eine Distanz zu seinen Protagonisten auf, die mir die beiden Charaktere Reither und Palm von Anfang bis zum Ende fremd erscheinen lassen. Insbesondere die Handlungen von Reither sind für mich teilweise nicht verständlich. Aber durch die Distanz zu den Charakteren eröffnete sich wieder viel Raum zur Interpretation, wie die Kommentare der Teilnehmer in der Leserunde bewiesen haben. Ich habe selten eine so lebhafte und anspruchsvolle Leserunde erlebt wie diese. Das war großartig!
"Wie oft hatte er lesen müssen, dass am Schluss einer Geschichte zwei getrennte Hauptpersonen noch einmal aufeinandertreffen, aus Zufällen, die dann gar keine sind, als steckte eine tiefere Notwendigkeit dahinter, tiefer als die eines Endes, wie es gewöhnliche Leser schätzen." (S. 220)
Klappentext und Buchbeschreibung deuten darauf hin: Es geht um zwei Menschen, Julius Reither und Leonie Palm, die nicht auf die große Liebe vorbereitet sind, was man ihnen deutlich anmerkt. Zwischen beiden besteht über weite Strecken der Handlung eine Distanz, die sich nicht so ohne weiteres überbrücken lässt und zumindest von Reuther anfangs gewollt ist. Es fällt ihm schwer, Palm bei ihrem Vornamen zu nennen. Denn sich beim Vornamen zu nennen und sich zu duzen, bedeutet Nähe und Vertrautheit. Das ist nichts für zwei Menschen, die in ihrer Vergangenheit die Höhen und Tiefen von Beziehungen durchgemacht haben und auf mehr oder weniger schwere Schicksalsschläge zurückblicken. Die beiden haben im Alter gelernt haben, sich allein zu genügen. Und doch gibt es sie ... die Momente der Vertrautheit zwischen den beiden ... die zufälligen Berührungen, die dann doch kein Zufall sind; das Anzünden der Zigarette für den anderen; das Tragen der Jacke des anderen. Aber reicht dies aus, um sich am Ende auf die Liebe einzulassen? Kirchhoff beantwortet diese Frage erst zum Schluss. 
"Ein Paar? Nein, kein Paar. Nur Mann und Frau. Sie haben sich gesiezt. Ein Du taugt nur etwas, wenn es aus dem Sie hervorgeht." (S. 22)
Fazit:
Widerfahrnis zeichnet sich durch einen herausragenden Sprachstil und eine Handlung aus, die viel Raum für Interpretationen zulässt. Es ist kein einfaches Buch, aber ein Buch, das den Leser zu Gedankenspielen herausfordert. Das macht für mich ein gutes Buch aus. Schließlich will ich als Leser beschäftigt werden und mich auch lange über die Lektüre hinaus an dieses Buch erinnern können. Bodo Kirchhoffs Novelle wird mit Sicherheit dazugehören.


Ob Kirchhoff den Deutschen Buchpreis zu Recht erhalten hat, kann ich nicht beantworten. Ich habe leider noch kein weiteres Buch der diesjährigen Shortlist gelesen. Aber wenn die Shortlist-Bücher nur ansatzweise das Niveau von Widerfahrnis haben, lohnt es sich, auch einen Blick auf die anderen Titel zu werfen.

© Renie


Widerfahrnis von Bodo Kirchhoff, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (September 2016)
ISBN:978-3-627-00228-2 

Dienstag, 8. November 2016

Kazuki Kaneshiro: Fly, Daddy, fly

Vor ein paar Wochen war ich auf der Messe der unabhängigen Verlage "text & talk" in Düsseldorf. Einer der Verlage, die sich dort präsentierten, war der cass verlag aus dem westfälischen Löhne. Der cass verlag hat sich mit einem, für den deutschen Markt ungewöhnlichen Programm spezialisiert. Denn bei cass findet man ausschließlich Bücher japanischer und koreanischer Schriftsteller. Den Leser erwartet eine hochinteressante Mischung aus Belletristik, Kriminalromanen und Klassikern. Der Verlag konzentriert sich dabei auf preisgekrönte Schriftsteller, die sich in ihrem Herkunftsland bereits einen Namen gemacht haben, jedoch bei uns noch weitestgehend unbekannt sind. Das soll sich natürlich ändern.

Den Anfang aus dem Programm des cass verlages habe ich mit Fly, Daddy, fly von Kazuki Kaneshiro gemacht.
Kaneshiro, 1968 in Japan geboren, ist Zainichi-Koreaner, d. h. er hat koreanische Wurzeln und gehört somit der größten Minderheitengruppe Japans an. Für seinen ersten Roman GO! (ebenfalls von cass veröffentlicht) ist er mit dem Naoki-Preis ausgezeichnet worden. Der japanische Naoki-Preis ist der bedeutendste Preis auf dem Gebiet der populären, unterhaltenden Literatur und richtet sich an japanischsprachige Nachwuchsautoren.
Ich habe mich für Kaneshiros zweiten Roman entschieden - ganz einfach, weil die Geschichte, die er erzählt so unglaublich ist.

Worum geht es in diesem Roman?
Ein Mädchen wird so brutal zusammengeschlagen, dass sie stationär behandelt werden muss. Die Sache wird vertuscht. Der Täter, ein junger Nachwuchsboxer, soll ungeschoren davonkommen.
Ihr Vater, ein gewöhnlicher Angestellter, unsportlich und nicht mehr der jüngste, will Rache. Der Weg ist ritterlich, aber verrückt: Er fordert den Boxer zum Kampf. Mann gegen Mann..

Zugegeben, die Geschichte wirkt fantastisch und irreal. Ein unsportlicher Papa, der flott gemacht wird - auch noch von einem Jugendlichen -, um gegen einen Boxchampion anzutreten? Einfach nicht darüber nachdenken. Denn es gibt Geschichten, die so fantastisch sind, dass sie einfach nur schön sind und man einen Hollywood-Film daraus machen könnte. Kaneshiro hat solch einen Roman geschrieben. Wenn man sich auf seine Fantasie einlässt, bekommt die Geschichte etwas Magisches und belohnt den Leser mit großartiger Unterhaltung.
"Ich rauche nicht und trinke nur in Maßen. Und, abgesehen von den gesellschaftlichen Anlässen, denen ich mich nicht entziehen kann, nur zu Hause. Aber auch ich, der ich, angefangen beim Namen, in jeder Hinsicht Mittelmaß und Durchschnitt bin, habe etwas Besonderes: meine Familie." (S. 8)
Was das Thema dieses Romanes angeht, ist dies bereits mehrfach verfilmt worden. Ich denke z. B. an Karate Kid, oder Rocky, oder sogar Star Wars, in dem der alte Yoda aus Luke Skywalker einen Vorzeige-Jedi macht. Jeder Film war für sich ein Genuss. Trotzdem man weiß, wie diese Filme ausgehen, hat man doch Spaß an ihnen und sieht sie sich immer wieder gern an.

Genauso ist es mir mit diesem Buch ergangen. Keine Frage, wer am Ende gewinnen wird. Aber allein der Gedanke, dass Goliath gegen David den Kürzeren ziehen wird, besitzt doch immer wieder viel Charme. Man möchte dabei sein, wenn es soweit ist.

Hinzu kommt, dass Kaneshiros Charaktere die Rollen tauschen. Der Vater Suzuki - als der Ältere - wird zum Lehrling, der Schüler Sun-shin Pak zum Meister. Ein interessanter Ansatz, wodurch sich dieses Buch dann doch von den genannten Filmen unterscheidet.

Wie es sich für einen guten Meister gehört, gibt Sun-shin Pak seinem Schüler Suzuki einige Weisheiten mit auf den Weg. Dabei erweisen sich berühmte Karate- und Martial-Arts-Filme als Quelle dieser Weisheiten. Man denke nur an Bruce Lee, dem der Autor Kaneshiro in diesem Roman einiges an Raum gewährt.
"Ich war erleichtert. Rocky hatte ich mir gerade vorgestern erst angesehen. Gestern hatte ich Sun-shin Pak die Laune verdorben, weil ich sein Zitat aus Matrix nicht erkannte: Ich will deinen Geist befreien, aber ich kann dir nur die Tür zeigen; durchgehen musst du ganz allein. Wir verbeugten uns voreinander in Bruce Lee-Manier und verließen den Rasen." (S. 127)
Kaneshiros Sprache kommt mit einer Leichtigkeit daher, die die Seiten nur so dahinfliegen lassen.
Er hat dabei ein Buch der Stereotypen geschrieben: Gut trifft auf Böse, Schwach auf Stark, Arm auf Reich. Und am Ende siegt David über Goliath. Aber ist doch prima, wenn die Welt so einfach ist! Ich lese, um mich zu unterhalten. Kaneshiro hat aus einer fantastischen Idee  einen Roman gezaubert, der genau das macht. Er unterhält, ohne banal oder trivial zu sein. Daher ... Leserherz, was willst du mehr?

© Renie


Fly, Daddy, fly von Kazuki Kaneshiro, erschienen im cass verlag
ISBN: 978-3-9809022-7-4


Donnerstag, 3. November 2016

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

Erst vor ein paar Wochen habe ich die amerikanische Schriftstellerin Elizabeth Strout für mich entdeckt. Mit ihrem vor 2 Jahren erschienenen Roman "Bleib bei mir" hat sie mich gekriegt. Die Pullitzer-Preisträgerin ist eine Meisterin der leisen Töne. Die Geschichten, die sie erzählt sind berührend und menschlich. Daher konnte ich auch an ihrem neuen Buch "Die Unvollkommenheit der Liebe" nicht vorbeigehen. Und ich wurde nicht enttäuscht. Ganz im Gegenteil!
Quelle: Luchterhand


Das Buch beginnt mit folgendem Szenario: Die Schriftstellerin Lucy Barton ist schwer krank. An ihrem Krankenbett wacht ihre Mutter. An und für sich eine – wenn auch traurige – aber dennoch normale Szene. Nicht so für Lucy. Denn sie und ihre Mutter hatten seit Jahren keinen Kontakt mehr zueinander. Lucies Mutter macht weder einen liebevollen noch einen besorgten Eindruck. Sie ist einfach da. Sie scheint mit ihrem Besuch eine Mutterpflicht zu erfüllen. Mütter kümmern sich nun mal um ihre kranken Kinder. Zwischen beiden besteht eine Distanz, die besonders durch das banale Geplauder der Mutter hervorgehoben wird. Lucy hat viele Fragen zu ihrer Vergangenheit. Sie möchte ein tiefsinnigeres Gespräch führen. Doch ihre Mutter blockiert. Auf mehr als Belanglosigkeit will sie sich nicht einlassen. Kann sie auch nicht, denn sie scheint ein Mensch zu sein, der nicht in der Lage ist, Gefühle zu zeigen, bzw. sich mit Problemen auseinanderzusetzen. Genau genommen existieren für sie die Probleme in der Beziehung zu ihrer Tochter nicht. Totschweigen hat sich bei ihr als adäquates Mittel zur Problembewältigung erwiesen.
"Ich wollte, dass meine Mutter sich nach meinem Leben erkundigte. Ich wollte meiner Mutter von dem Leben erzählen, das ich jetzt führte. In meiner Dummheit - denn das war es, dumm und sonst gar nichts - platzte ich heraus mit: 'Mom, von mir sind zwei Geschichten erschienen.' Sie warf mir einen schnellen, befremdeten Blick zu, als hätte ich gesagt, dass mir zusätzliche Zehen gewachsen wären, dann sah sie, ohne etwas zu sagen, aus dem Fenster." (S. 62 f.)
Lucies Kindheit war alles andere als leicht. Ihre Familie lebte in ärmlichen Verhältnissen in einer amerikanischen Kleinstadt. Lucy war von kleinauf gewohnt, in dieser Stadt zu den Außenseitern zu gehören. Selbst in ihrer Familie erhielt sie nicht die Geborgenheit und Unterstützung, die ein Kind so dringend nötig hat. Die Eltern waren sehr streng in der Erziehung ihrer Kinder. "Zuckerbrot und Peitsche" trifft den Erziehungsstil am ehesten. Grausamkeiten wechselten sich mit Zärtlichkeiten ab.
Elizabeth Strout lässt uns an Lucies Kindheitserinnerungen teilhaben. Der Fantasie des Lesers werden dabei kaum Grenzen gesetzt. Denn die Erinnerungen Lucies sind von Andeutungen durchzogen, die auf entsetzliche Dinge hinweisen, die ihr als Kind widerfahren sind.
" ... es war einfach nackte Angst, dieses Wissen, dass niemand kommen und mir helfen würde, während der Himmel draußen dunkel wurde und die Kälte zu mir hereinkroch. Jedes Mal schrie und schrie ich. Ich weinte, bis ich kaum mehr Luft bekam. Hier in New York sehe ich Kinder aus Müdigkeit weinen, die real ist, ich sehe sie aus Ungezogenheit weinen, die ebenfalls real ist. Aber hin und wieder sehe ich ein Kind aus Verzweiflung weinen, und für mich ist das einer der wahrhaftigsten Laute, die ein Kind ausstoßen kann. Dann meine ich wieder, hören zu können, wie mein Herz in mir bricht, ..." (S. 66)
Elizabeth Strout konzentriert die Handlung anfangs auf den Krankenhausaufenthalt und das Mutter-Tochter-Verhältnis. Doch im Verlauf der Geschichte nimmt die Entwicklung von Lucy und ihr Leben lange nach ihrer Krankheit immer mehr Raum ein, so dass die Zeit der Krankheit nur noch eine Episode im Leben von Lucy bleibt.

Lucy hat gelernt, ihren eigenen Weg zu gehen, ohne Rücksicht auf Verluste. Sie nimmt in Kauf, dass dabei Menschen, die ihr nahestehen, verletzt werden. Lucy erkennt, dass sie in ihrer Ehe nicht glücklich ist und trennt sich von ihrem Mann. Die Familie – allen voran die Kinder - wird eine schwierige Zeit durchmachen, aber am Ende wird sich Lucies Entscheidung als richtig erweisen. Da die Zeit bekanntlich alle Wunden heilt, werden alle wieder auf einer freundschaftlichen Basis zueinander finden.
"Der Zorn meiner Mädchen während dieser Jahre! Es gibt Momente, in denen ich ihn zu vergessen versuche, aber ich kann ihn nicht vergessen. Und ich frage mich, welche Dinge es wohl sein werden, die sie nicht vergessen können." (S. 199)
In diesem Roman ist mir insbesondere das Verhältnis von Lucy zu ihrer Mutter nahegegangen.
Was ist das für eine Mutter-Tochter-Beziehung, die die Ich-Erzählerin Lucy hier beschreibt? Eigenartig. Da liegt die Tochter sterbenskrank in der Klinik, die Mutter, zu der seit Jahren kein Kontakt bestand, wacht in Erfüllung ihrer Mutterpflicht an ihrem Krankenbett. Und trotzdem wirkt die Mutter distanziert. Lucy liebt ihre Mutter, scheut sich jedoch, ihre Gefühle zu zeigen, weil sie weiß, wie schmerzhaft es ist, zurückgewiesen zu werden. Und die Mutter ist jemand, die ein Leben lang nicht gewohnt war, Gefühle zu zeigen bzw. darüber zu sprechen. So vermisst man die Innigkeit, die man von einer Mutter-Tochter-Liebe erwartet. Aber irgendwie scheinen die beiden sich zu arrangieren. Denn man wird das Gefühl nicht los, dass die beiden sich auf eine eigene und sehr spezielle Gefühlsebene geeinigt haben und damit zufrieden sind.
"Ich fürchte, es könnte schwer zu verstehen sein, dass meine Mutter die Worte 'Ich hab dich lieb' nicht über die Lippen brachte. Ich fürchte, es könnte schwer zu verstehen sein, dass mir das nichts ausmachte." (S. 143 f.)

Fazit:
Das Besondere an Elizabeth Strout ist ihre Gabe, Mitgefühl und Empathie in Worte zu fassen, ohne dass es aufgesetzt oder kitschig wirkt. Sie bedient sich dabei einer unaufgeregten Sprache, die klar strukturiert ist und die Dinge auf den Punkt bringt. Sie lässt uns in Lucies Seelenleben blicken und beschreibt eine Mutter-Tochter-Beziehung, die zwar verstört, aber dennoch verdeutlicht, dass ihre Liebe zueinander nach eigenen Regeln abläuft. Die Liebe, die Elizabeth Strout hier beschreibt, ist unvollkommen und passt in kein Schema. Aber was ist schon vollkommen?!

© Renie

Die Unvollkommenheit der Liebe von Elizabeth Strout, erschienen im Luchterhand Verlag (August 2016)
ISBN: 978-3-630-87509-5


Über die Autorin:
Elizabeth Strout wurde 1956 in Portland, Maine, geboren und wuchs in Kleinstädten in Maine und New Hampshire auf. Nach dem Jurastudium begann sie zu schreiben. Ihr erster Roman »Amy & Isabelle« (1998) wurde für die Shortlist des Orange Prize und den PEN/Faulkner Award nominiert. Für »Mit Blick aufs Meer« bekam sie 2009 den Pulitzerpreis. Alle ihre Romane waren Bestseller. Elizabeth Strout lebt in Maine und in New York City. (Quelle: Luchterhand)