Donnerstag, 30. Juni 2016

J. Paul Henderson: Letzter Bus nach Coffeeville

Ein Schwarzseher, ein toter Scharfschütze, ein Wettermann und ein Waisenkind … Dies sind nur einige der Charaktere aus J. Paul Hendersons originellem Roman über einen Bustrip durch die Südstaaten des heutigen Amerikas. Im Mittelpunkt steht dabei die lebenslange und bedingungslose Freundschaft der Protagonisten und die Einforderung eines Versprechens.
Quelle: Diogenes

Worum geht es in diesem Roman?
Nancy Skidmore leidet an Alzheimer. Bereits in ihrer Jugend war ihr bewusst, welches Schicksal ihr droht, da diese Krankheit in ihrer Familie von Generation zu Generation weitergereicht wird. Mittlerweile ist sie Ende 60 und die Symptome der Krankheit werden immer schlimmer. Ihre größte Angst war immer, dass sie im Alter ein menschenunwürdiges Leben führen muss und nur noch ein Schatten ihrer selbst sein wird. Daher hat sie mit Anfang 20 ihrem Freund „Doc“ Eugene das Versprechen abgenommen, dass er sich um sie kümmern wird, sobald sie ihre Krankheit nicht mehr allein meistern kann. Lange Zeit hat er nichts von Nancy gehört. Genauso wenig wie von Bob. Die drei waren in ihrer Jugend immer als Dreiergespann unterwegs, haben sich aber über lange Jahre aus den Augen verloren. Nun ist der Zeitpunkt gekommen, dass Doc sein Versprechen einlösen muss. Er beschließt, Nancy nach Coffeeville zu bringen. Hier gibt es ein Haus im Besitz der Familie Skidmore, in dem Nancy während der Zeit als sie noch klar im Kopf war, viele glückliche Stunden verbracht hat. Doch Doc benötigt Unterstützung während der Reise nach Coffeeville. Begleitet werden Nancy und Doc daher von Bob, dem alten Freund sowie Jack, Doc's Patensohn. Unterwegs stößt noch Eric dazu, ein elfjähriges Waisenkind, das auf der Suche nach Familie und Geborgenheit ist. Er hofft, dies bei seiner Cousine Susan, die im Erotikgewerbe tätig ist, zu finden. Der Zufall führt Eric mit den drei Männern und Nancy zusammen, die ihm nun bei der Suche helfen wollen. Aber egal, wie die Suche ausgehen wird. Coffeeville wird die Endstation dieser Reise sein.

"Die Nancy Skidmore, die inzwischen in der geschlossenen Abteilung des Pflegeheims lebte, hatte nicht mehr viel mit dem Menschen zu tun, der sie früher einmal gewesen war. Ihr Geist war von Flechten und Moos überzogen wie ein alter Grabstein, und die Tür zu ihrem Gedächtnis war nur noch einen Spalt breit offen. Bald wäre sie verriegelt und verrammelt." (S. 239)
Der Roman beginnt, indem J. Paul Henderson zunächst seine Charaktere vorstellt. Er holt dabei weit aus und beginnt in den Jahren, in denen der Grundstein für die Freundschaft von Nancy, Doc und Bob gelegt wurde. Auch wenn sie sich jahrelang aus den Augen verloren haben und sie nicht mehr viel voneinander wissen, verbindet sie diese tiefe uneingeschränkte Vertrautheit, die sich nur bei lebenslangen Freundschaften finden lässt. Der Leser erfährt, welche großen und kleinen Dramen die Protagonisten in der Vergangenheit erlebt haben, und wie sehr sie diese Dramen geprägt haben. 

J. Paul Henderson hat aus seinen Charakteren etwas Besonderes gemacht. Auf den ersten Blick erscheinen sie „merkwürdig“. Sie haben Eigenarten an sich, die man als „schräg“ beschreiben kann. Aber je mehr man sich mit ihnen beschäftigt, umso intensiver lernt man die „wahren“ Charaktere kennen: verantwortungsvolle Menschen, die sich aufopfernd umeinander kümmern und für die Freundschaft eine lebenslange Verpflichtung bedeutet, die man gern erfüllt – in guten wie in schlechten Zeiten! 
"In Wahrheit war Doc davon überzeugt, dass von den Menschen abgesehen, mit denen er im Moment gemeinsam unterwegs war, ihn niemand wirklich kannte, selbst wenn sie wussten, wie er hieß. Das bereute er rückblickend am meisten: Dass er sich zeit seines Lebens nicht dagegen gewehrt hatte, zu einer Karikatur dessen zu werden, wie ihn andere sahen, anstatt der zu sein, als der er sich wirklich fühlte. Alle gingen davon aus, dass er kein großer Menschenfreund, am liebsten allein war und kaum Gefühle hatte." (S. 402)
Die Reise nach Coffeeville führt die Freunde quer durch die Südstaaten Amerikas. Der Leser stellt schnell fest, dass Henderson seine Protagonisten durch eine heile Welt reisen lässt. Idyllische Landschaften, kleine Ortschaften, wenig Schmutz und Lärm. Ja, den Leuten geht es gut in diesen Breitengraden. Der Inbegriff der heilen Welt findet sich tief in Walton’s Mountain. Wer kennt sie nicht, die TV-Familie Walton aus den 80ern? Die Amerikaner liebten diese Fernsehserie - und nicht nur die Amerikaner. Bei den Waltons war die Welt noch in Ordnung. Auch wenn sich ein paar Sorgen in den Alltag dieser Familie schlichen, spätestens beim Zubettgehen, waren diese Probleme vergessen. „Gute Nacht, John-Boy! Guten Nacht, Sue-Ellen! Gute Nacht Grandpa! …“ Dieses allabendliche Ritual reichte aus, dass dem Zuschauer ganz warm ums Herz wurde.
"Die Serie war ein großer Erfolg. Ihre Fangemeinde sehnte sich zurück nach dieser längst vergangenen Zeit, in der es noch klare Regeln gab und man ein gottesfürchtiges Leben führte, als traditionelle Werte noch groß geschrieben wurden, der Familienzusammenhalt stark und Einsamkeit ein Fremdwort war. Dass das Leben von damals, wie es in der Serie dargestellt wurde, so nie existiert hat, war den Millionen begeisterter Zuschauer egal, und jede Woche tauchten sie aufs Neue ein in das Leben und die Probleme der Menschen, die in Walton's Mountain lebten, und vergaßen dabei nur zu gern, dass der Schauspieler, der Grandpa Walton verkörperte, einmal Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war." (S. 339 f.)
Und hier kommt der satirische Charakter von Henderson's Roman durch. Denn bei allem Heile-Welt-Denken vergisst er nicht darauf hinzuweisen, dass Spießigkeit und Scheinheiligkeit einen großen Platz in dieser Gesellschaft einnehmen. Henderson lässt keine Möglichkeit aus, den konservativen Teil der amerikanischen Gesellschaft durch den Kakao zu ziehen. Das macht das Buch sehr komisch, denn die Bloßstellungen der Gesellschaft sind dabei äußerst fantasievoll und originell.

Dieser tolle Roman bewirkt bei dem Leser Einiges. Nahezu die komplette Gefühlspalette wird durchlaufen. Man lacht und weint, empört sich und fühlt mit. Man hofft und bangt. Dieser Roman lässt einen nicht los. Man genießt jede Seite, denn J. Paul Henderson hat viel zu erzählen. Sein Sprachstil ist dabei sehr lebhaft, so dass es einfach nur Spaß macht, der Geschichte um die alten Freunde in ihrem klapprigen Bus zu folgen.

J. Paul Henderson hat dieses Buch geschrieben, nachdem seine Mutter nach langer Leidenszeit vor einem Jahr an Alzheimer gestorben ist. Dieser Roman ist sein Erstlingswerk und er musste tatsächlich 67 Jahre alt werden, um seine schriftstellerische Gabe zu entdecken. Man kann nur hoffen, dass er nicht lange mit weiteren Romanen auf sich warten lässt. Denn „Letzter Bus nach Coffeeville“ macht eindeutig Lust auf mehr von J. Paul Henderson.

© Renie


Letzter Bus nach Coffeeville von J. Paul Henderson, erschienen im Diogenes Verlag
Erscheinungsdatum: April 2016
ISBN: 978-3-257-06959-4



Über den Autor:
J. Paul Henderson, geboren 1948 in Bradford, Yorkshire, studierte Amerikanistik und promovierte über Darlington Hoopes (den letzten sozialistischen Präsidentschaftskandidaten der USA). Nach Gelegenheitsjobs als Gießer, Busfahrer und Finanzbuchhalter arbeitete er als Vertriebschef für den New Yorker Sachbuchverlag Wiley-Blackwell. Inzwischen wohnt er wieder in Bradford. Nachdem seine Mutter Alzheimer bekommen hatte und gestorben war, wurde er mit einem unernsten Roman über ein ernstes Thema, ›Letzter Bus nach Coffeeville‹, zum Schriftsteller. (Quelle: Diogenes)



Von Hershey nach Coffeeville ...




Donnerstag, 23. Juni 2016

Joël Dicker: Die Geschichte der Baltimores

Ein Autor hat einen Bestseller herausgebracht. Sein Buch hat sich millionenfach verkauft. Jetzt steht er unter Erfolgszwang, denn die Leserschaft verlangt nach einem weiteren Roman, der mindestens an den Vorgänger heranreicht. Schafft es der Autor mit dieser erdrückenden Erwartungshaltung umzugehen? Hat er nicht mit seinem ersten grandiosen Bestseller sein schriftstellerisches Pulver verschossen? 
Und schließlich ist es soweit, sein neuer Roman wird veröffentlicht. Von der Optik her fühlt man sich an den Vorgänger erinnert: ähnliches Cover, gleiche Art der Illustrationen und einer der Hauptcharaktere kommt ebenfalls in der Geschichte vor.
Da kommt leicht der Verdacht auf, dass der Nachfolger ein Abklatsch des erfolgreichen Vorgängers ist. Nicht so bei Joël Dicker, der mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, veröffentlicht im Jahre 2012, ein unglaubliches Buch geschrieben hat. Sein neuer Roman „Die Geschichte der Baltimores“ weist nur sehr wenige Parallelen zu seinem Vorgänger auf. Auch wenn Joël Dicker die Messlatte durch seinen Erfolg mit „Harry Quebert“ sehr hoch gehängt hat, schafft er trotzdem das Kunststück, mit seinem Neuling noch einen draufzulegen.

Quelle: Piper
Worum geht es in diesem Roman?
Die Goldmans aus Montclair sind eine typische Mittelstandsfamilie, sie leben in einem langweiligen Vorort von New Jersey und schicken ihren Sohn Marcus auf eine staatliche Schule. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Man ist wohlhabend und erfolgreich, der Sohn Hillel hochbegabt, der Adoptivsohn Woody ein vielversprechender Sportler. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für diese „besseren“ Verwandten und seiner leisen Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Hillel und Woody aber sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar, zu dritt schwärmen sie für das gleiche Mädchen – Alexandra. Bis ihre heile Welt eines Tages für immer zerbricht. Acht Jahre nach der Katastrophe beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Aber das Leben ist komplizierter als geahnt, und die Wahrheit über die Familie hat viele Gesichter, die ihm gänzlich unbekannt waren … (Klappentext)

Marcus Goldman is back! Marcus, der bereits in Joël Dickers Buch "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" eine wichtige Rolle gespielt hat, übernimmt auch diesmal die Funktion des Erzählers. Er setzt mit seiner Geschichte im Oktober 2004 ein - „einen Monat vor der Katastrophe“ wie uns in der Überschrift des Kapitels verraten wird. Es bedarf also nicht vieler Worte, um direkt die volle Aufmerksamkeit des Lesers zu erlangen. Schon ist man in der Geschichte drin und sucht nach Hinweisen, was es mit dieser „Katastrophe“ auf sich haben könnte. 
"' ... Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grunde keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden. ...'" (S. 505)
Marcus Goldman holt in seiner Erzählung zunächst weit aus. Rückblickend (wir schreiben mittlerweile das Jahr 2012) führt er uns in die 80er und 90erJahre, die Zeit seiner Kindheit und Jugend. Hier lernt der Leser die Goldman-Gang kennen – Marcus und seine beiden Cousins Hillel und Woody, die alle drei im gleichen Alter sind, und die eine unzertrennliche Freundschaft verbindet. Marcus genießt es, Ferien und Feiertage mit seinen Cousins aus Baltimore zu verbringen. Sein reicher Onkel Saul und dessen Frau Anita, sehen es als selbstverständlich an, dass Marcus bei ihnen ein- und ausgeht. Er ist wie ein dritter Sohn für sie. Marcus empfindet Bewunderung für den Lifestyle der „Baltimores“, der so völlig im Kontrast zu dem Leben steht, das er mit seinen eigenen Eltern, den „Montclairs“, führt. Der Leser begleitet die drei Jungen durch ihre Kindheit, allerdings immer wieder unterbrochen von Momentaufnahmen der Gegenwart, 8 Jahre nach der Katastrophe.
Marcus möchte nach all den Ereignissen, die seine Kindheit geprägt haben, ein Buch über die Geschichte der Familie Goldman schreiben. Während er seine Kindheit und Jugend Revue passieren lässt, fängt er an, vieles zu hinterfragen. Ihm wird schnell bewusst, dass in der Geschichte seiner Familie Dinge geschehen sind, deren Hintergründe er erst heute, mit einigen Jahren Abstand  versteht.
"Das war es, was die Goldman-Gang zusammengehalten hatte: Wir waren großartige Träumer gewesen. Das hatte uns ausgezeichnet. Und nun war ich der Letzte von uns dreien, der noch einem Traum nachhing. Dem ursprünglichen Traum. Warum wollte ich ein berühmter Schriftsteller werden und nicht einfach nur Schriftsteller? Wegen der Baltimores. Einst waren sie meine Vorbilder gewesen, dann waren sie zu Rivalen geworden. Ich wollte nur eins: sie übertreffen." (S. 418 f.)
Stellenweise fühlte ich mich an eine griechische Tragödie erinnert - nur dass Joël Dicker mit seinem Erzählstil um einiges unterhaltsamer ist ;-). Protagonisten, die sich in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren, eine unabwendbare herannahende Katastrophe, innere Konflikte und Zerrissenheit, die die tragischen Helden ins Unglück stürzen. Das alles findet man bei Joël Dicker. Bei ihm geht es um Liebe und Eifersucht, Bewunderung und Neid, Bruderliebe und Rivalität, Vater-Sohn-Konflikt, Familienbande, Stolz, Missverständnis etc. etc. etc. Man stellt an vielen Stellen fest, dass das Leben in der Familie Goldman einer gefühlsmäßigen Gratwanderung gleich kommt:
Marcus‘ Bewunderung für die Baltimores lässt sich selten von Neid unterscheiden.  Dieser Neid wird ihn seine ganze Kindheit begleiten. Doch erst im Erwachsenenalter wird er dieses Gefühl verstehen und lernen, damit umzugehen.
Hillel und der adoptierte Woody verbindet eine innige Geschwisterliebe. Aber dennoch ist ihr Miteinander von Rivalität und Eifersucht geprägt. Unbewusst gönnt keiner dem anderen die ihm eigene Begabung. Sie kämpfen mit der ständigen Angst, dass der andere den Eltern wichtiger sein könnte, weil er etwas kann, das man selbst nicht beherrscht. Und doch halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Sie können nicht ohne den anderen.

Familiäre Beziehungsprobleme scheinen bei den Goldmans von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Es wundert nicht, dass Marcus Goldman bei seinen Nachforschungen bestätigt bekommt, dass auch sein Vater und dessen Bruder Saul mit Rivalität, Neid und Eifersucht zu kämpfen hatten. Die Brüder waren ständig dem Druck ausgesetzt, sich ihrem dominanten Vater gegenüber beweisen zu müssen, und um dessen Liebe zu kämpfen.
"In solchen Momenten war ich böse auf Onkel Saul, weil er meine Eltern kleinmachte. Er verhexte sie mit seinem verfluchten Geld, sodass sie zu zwei jämmerlichen Würmchen schrumpften, die sich verkleiden mussten, um sich ein Essen spendieren zu lassen, das sie sich selbst nie leisten könnten. Und ich sah den unmäßigen Stolz im Blick meiner Großeltern. Nach jedem dieser Ausflüge verkündete Großvater Goldman jedem, der es hören wollte, wie sagenhaft erfolgreich sein Sohn sei, der große Saul, der König des Hauses Baltimore." (S. 350)
Joël Dicker ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil ist durch eine Leichtigkeit gekennzeichnet, die die Seiten nur so dahinfliegen lassen. Gerade die Erzählungen aus der Kindheit der Goldman-Gang sind sehr kurzweilig und vermitteln den Eindruck einer fast idyllischen Familienszenerie. Tja, wenn die Andeutungen auf die „Katastrophe“ nicht wären. Diese Hinweise erinnern den Leser immer wieder daran, dass nicht „alles Gold ist, was glänzt“. Und plötzlich kommt der Moment der „Katastrophe“. Die Handlung nimmt eine unvorstellbare Wendung an. In einem einzigen Moment ist das Goldmansche Familienglück verpufft. Man hat mit allem gerechnet, nur nicht damit. Das ist großartige Unterhaltung. Es fehlt nur das Popcorn, um das Kopfkino perfekt zu machen.

Fazit:
Ich bin erleichtert! Nach „Harry Quebert“ habe ich den „Baltimores“ regelrecht entgegengefiebert. Meine Befürchtungen, dass Joël Dickers neuer Roman ein Abklatsch von Harry Quebert sein könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil. Die beiden Romane weisen nur sehr wenige Parallelen auf. Tatsächlich hat Dicker es geschafft, mit den Baltimores noch eine Schippe draufzulegen. Er ist ein Meister der hohen Erzählkunst. Seine sprachliche Leichtigkeit ist nicht zu übertreffen und macht jede einzelne der 510 Seiten zu einem Hochgenuss.

© Renie


Die Geschichte der Baltimores von Joel Dicker, erschienen im Piper Verlag
Erscheinungsdatum: Mai 2016
ISBN: 978-3-492-05764-6


"Warum ich schreibe? Weil Bücher stärker sind als das Leben. Sie sind die schönste aller Revanchen. Sie sind Zeugen der unzerstörbaren Mauer unseres Geistes, der uneinnehmbaren Festung unserer Erinnerung." (aus dem Epilog, S. 510)

Über den Autor:
Joël Dicker wurde 1985 in Genf geboren. Der studierte Jurist hat bislang drei Romane veröffentlicht, »Les Derniers Jours de nos Pères«, »La Vérité sur l'Affaire Harry Quebert« (dt.: »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert«) und »Le Livre des Baltimore« (dt.: »Die Geschichte der Baltimores«). Für »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« bekam Dicker den Grand Prix du Roman der Académie Française zugesprochen sowie den Prix Goncourt des Lycéens. Das bei einem winzigen Verlag erschienene Buch wurde in Frankreich zu der literarischen Sensation des Jahres 2012, die Übersetzungsrechte wurden mittlerweile in über 30 Sprachen verkauft. Mit »Die Geschichte der Baltimores« konnte Joël Dicker an diesen überwältigenden Erfolg anknüpfen - der Roman steht seit seinem Erscheinen im Herbst 2015 ununterbrochen auf den obersten Plätzen der französischen Bestsellerliste. (Quelle: Piper)


Donnerstag, 16. Juni 2016

Romy Wolf: Zechengeister

Fantasy unter Tage! Romy Wolf hat mit „Zechengeister“ einen atmosphärischen Fantasyroman geschrieben, der den Leser von Anfang bis zum Ende in seinen Bann zieht. Allein schon die Vorstellung, sich Tausende von Metern unter der Erde aufzuhalten, in nahezu völliger Dunkelheit und inmitten eines riesigen Stollenlabyrinths, lassen den Adrenalinspiegel drastisch ansteigen. Die Fantasie läuft zur Höchstform auf, und plötzlich ist der Gedanke an Wesen, die durch Bergwerksstollen geistern, gar nicht mehr so abwegig. 


Worum geht es in diesem Roman?
Micha Keller lebt mit Mutter und Schwester Neni in einer Siedlung der Zeche Alba irgendwo im Ruhrgebiet. Er ist Bergarbeiter und fährt jeden Tag in den Stollen, um  seine Familie ernähren zu können. Seine jüngere Schwester Neni ist eine Geisterseherin. Sie ist in der Lage, mit den Geistern der Verstorbenen zu kommunizieren. Anfangs als Absonderlichkeit abgetan, stellt Micha irgendwann fest, wie wertvoll Neni’s einzigartige Fähigkeit ist. Denn die Familien der Zeche Alba werden von einer merkwürdigen Krankheit epidemischen Ausmaßes heimgesucht. Die Narrenkrankheit geht um. Menschen erwachen nicht mehr aus dem Schlaf und vegitieren in einer Art Wachkoma vor sich hin. Die Ursache für diese Krankheit ist irgendwo in den Tiefen des Bergwerkes zu finden. Als auch ihre Mutter in den todesähnlichen Schlaf fällt, begeben sich Micha und Neni unter Tage, um den Kampf gegen die Verursacher dieser schrecklichen Seuche aufzunehmen. Unterstützung finden sie dabei in Falkor und Jaris, zwei merkwürdige Wesen, die seit Jahrhunderten unter der Erde leben.
„Der Lärm, der die Gebäude der Zeche und der angrenzenden Kokerei zu jeder Tageszeit umgab, bedeutete Leben. Er bedeutete, dass Männer in den Stollen herab fuhren, hundert, tausend Meter und mehr, und am Ende der Schicht schwarz vor Kohlenstaub wohlbehalten wiederkehrten. Dass die Männer Lohn mitbrachten. Geld, von dem Brot gekauft und die Miete bezahlt werden konnte. Er bedeutete, dem Tod wieder einmal ein Schnippchen geschlagen zu haben. Es mochte nicht viel von dem Lärm nach außen dringen. aber im Innern tobte die Zeche.“ (S. 7)
Schauplatz ist die Zeche Alba im Ruhrgebiet zum Ende des 19. Jahrhunderts - eine fiktive Zeche, die es aber genauso gegeben haben könnte. Der Bergbau boomt. Gastarbeiter werden ins Land geholt. Dabei handelt es sich vorwiegend um Familien aus Polen und Italien. Anfeindungen zwischen den Bevölkerungsgruppen sind an der Tagesordnung. Toleranz ist ein Fremdwort. Den deutschen Bergarbeiterfamilien sind die „Polacken“ und „Itaker“ ein Dorn im Auge. Nicht nur aufgrund des Sprachproblems leben die Bevölkerungsgruppen unter sich in ihren eigenen Vierteln. Angriffe gegenüber Polen und Italienern sind an der Tagesordnung. Mit Ausbruch der Narrenkrankheit sind die deutschen Kumpel schnell bei der Hand, den polnischen und italienischen Familien die Schuld zu geben, auch wenn diese genauso viele Opfer zu beklagen haben. Denn zumindest der Narrenkrankheit ist die Nationalität der Menschen egal.
„Die Wolken bluteten und der Himmel war erleuchtet, nicht völlig schwarz, wie er hätte sein sollen. Lange Schornsteine bohrten sich wie Lanzen in den Bauch des Gestirns, einer nach dem anderen. Rauch zeichnete sich dämonisch vor dem brennenden Himmel ab. … Und dann waren da die endlosen Reihen von niedrigen Backsteinhäusern, in denen die Menschen zu Tausenden eingepfercht warteten wie auf dem Weg zur Unterwelt. Kleine Zellen, die Seelen einsperrten und ihnen all die Hoffnung nahmen. Straßenzüge, ein Labyrinth gebaut aus Elend und Trostlosigkeit.“ (S. 92)
Man merkt diesem Roman an, dass die Autorin Ruhrgebietlerin durch und durch ist. Bei der Schilderung des Bergarbeiter-Daseins ist sie sehr authentisch. Dazu trägt ihr sehr bildhafter Sprachstil bei, der das Zechenleben einzigartig in Szene setzt. Der Leser hört den Höllenlärm, er spürt das Vibrieren der Dampfmaschinen, er sieht die kohlestaubverkrusteten Gesichter der Kumpel vor sich. Lärm, Dreck und Schweiß – die ständigen Begleiter der Bergarbeiter. 
Gerade die Szenerie in den Bergwerksstollen ist sehr eindringlich beschrieben. Unbehagen macht sich breit, wenn der Lärm plötzlich durch Momente der Stille abgelöst wird. Stille, die einen fast erdrückt und bewusst macht, wie tief man unter der Erde ist, wieviel Gestein über einem lastet und wie entsetzlich weit das Tageslicht entfernt ist. Gruselig! Das ist nichts für Leser mit Platzangst! 
Man hat fast den Eindruck, dass sich Stille und Dunkelheit unter Tage auf den Schreibstil der Autorin auswirken. Romy Wolf konzentriert sich bei der Beschreibung dieser Szenerie auf Geräusche und Gerüche, Schatten und Bewegungen, die aus dem Augenwinkel wahrgenommen werden. Man sieht nicht weiter als die Grubenlampe leuchtet. Als Leser erahnt man in diesen Momenten eher das Geschehen als dass man es vor seinem geistigen Auge sehen kann. Das ist sehr geschickt von der Autorin gemacht, da der Leser dieses bedrohliche Gefühl, mit dem die Protagonisten in diesen Momenten zu kämpfen haben, am eigenen Leib erfährt, was diesen Roman gerade in den Szenen unter Tage extrem spannend machen.

Fazit:
Ich lebe im Ruhrgebiet und finde daher die Idee, eine Zeche zum Schauplatz eines Fantasyromanes zu machen, einfach nur großartig. Romy Wolf hat mich mit ihrer Darstellung des Bergarbeiterlebens des 19. Jahrhunderts überzeugt. Sie schafft es mit einer sehr bildhaften Sprache den Leser in eine schaurig-schöne Stimmung zu versetzen, die einen bis zum Ende nicht mehr loslässt. Freunde historischer Fantasy und Fans des Ruhrgebietes werden diesen Roman lieben.

© Renie

Zechengeister von Romy Wolf, erschienen im Verlag in Farbe und Bunt
Erscheinungsdatum: Juli 2015
ISBN (Taschenbuch): 978-3-941864-18-4
ISBN (E-Book): 978-3-941864-19-1



Dienstag, 7. Juni 2016

David Bielmann: Freedom Bar

Als Literaturblogger bekommt man immer wieder Bücher zur Rezension angeboten. Es ist natürlich schwierig für einen Autor, aus der breiten Masse der Publikationen hervorzustechen. Nicht jeder verfügt über ein großes Marketingbudget. Da bleibt oft nur die direkte Ansprache von Leuten wie mir, also Lesern, die Rezensionen schreiben. Leider entspricht ein Großteil der mir angebotenen Bücher nicht meinem Lesegeschmack, so dass ich diese meistens ablehne. Als mir David Bielmann jedoch sein Buch anbot, war da sofort dieses Bauchgefühl, dass "Freedom Bar" ein Schatzkästchen von einem Roman sein könnte. Und ich hatte den richtigen Riecher. Denn David Bielmann hat mit "Freedom Bar" einen Roman gezaubert, der meine Erwartungen mehr als übertroffen hat. Und ich hoffe, dass er ganz viele Leser findet, die sich genauso begeistern lassen wie ich.




Worum geht es in diesem Roman?

Freiburg - ein kleines Städtchen in der Schweiz. In der Lausannegasse Nr. 43 steht ein Haus, das im Keller die Freedom Bar beherbergt. Im Erdgeschoss gibt es einen Buchladen. In weiteren Stockwerken befinden sich eine Anwaltskanzlei sowie eine Mietwohnung. Dieses Haus ist der Dreh- und Angelpunkt für die Geschichte um die 3 Protagonisten
  • Heinrich alias Henry Schweizer - Betreiber der Freedom Bar.
  • Johann Grab - Buchhändler, der sein Glück mehr schlecht als recht mit der Buchhandlung "Wissensarchiv" versucht.
  • Bert Buch - erfolgloser Musiker und Songschreiber, der die Mietwohnung in der Lausannegasse Nr. 43 von seiner kürzlich verstorbenen Oma übernommen hat.
Obwohl diese 3 Charaktere in unmittelbarer Nähe zueinander wohnen, haben sie anfangs herzlich wenig miteinander zu tun. Erst im Verlauf der Geschichte kreuzen sich ihre Lebenswege immer häufiger und ihre Schicksale werden miteinander verwoben.
Alle 3 haben eines gemeinsam: Sie sind tragisch-komische Helden. Das Leben hat es bis jetzt weder gut noch schlecht mit ihnen gemeint. Doch wie so oft ist man selten zufrieden mit dem, was man hat. So sehnen sich die Drei nach einem anderen und besseren Leben.
"Es gab Leute, die stets das Ausgefallene suchten, Leute, die befürchteten, zum Durchschnitt zu gehören, der Alltagsmonotonie anheimzufallen, und dann mit verrückten Aktionen irgendetwas tun wollten, und sei es vielleicht nur, um sich die Macht über sein eigenes Leben zu beweisen: Kündigungen aus dem Bauch heraus, plötzliche Reisen ohne Rückflugticket, ein neues außergewöhnliches Hobby, neue etwas spezielle Freunde, Fallschirm- und Seitensprünge." (S. 83)

Donnerstag, 2. Juni 2016

Sonja Rüther: Tödlicher Fokus

Dieses Gefühl, heimlich beobachtet zu werden …. das Bedürfnis, sich ständig umdrehen zu müssen …. Bewegungen, die man aus dem Augenwinkel registriert … wer ist da? … alles nur Einbildung?
Natürlich ist alles Einbildung. In der Regel spielt einem die eigene Fantasie einen Streich und die Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung ist doch sehr gering.
Aber was ist mit jemandem, der gestalkt wird? Für diese Person wird dieses ekelhafte Gefühl der Angst zu einem ständigen Begleiter und blühende Fantasie wird zur grausamen Realität.
Der aktuelle Thriller „Tödlicher Fokus“ von Sonja Rüther handelt von dieser Angst und dem, was extreme psychische Belastungen aus einem Menschen machen können.

Quelle: Briefgestöber
Worum geht es in diesem Thriller?
Ein Jäger weiß, wie man Hasen fängt: mit einer Schlinge, die das Opfer erst sieht, wenn es zu spät ist …
Für die junge Schauspielerin Marike geht ein Traum in Erfüllung, als sie ihre erste Filmrolle bekommt – noch dazu an der Seite des charmanten Top-Stars Lars Behring. Aber während sie vor der Kamera über sich hinauswächst, fallen nach Drehschluss dunkle Schatten auf Marike: Sie fühlt sich beobachtet, verfolgt, schutzlos. Noch ahnt Marike nicht, welcher Horror ihr bevorsteht … und wie er sie verändern wird!

Im Visier des Stalkers: Ein eiskalter Thriller über Machtspiele, Besessenheit und die Abgründe, die in unserer Seele lauern.

Sonja Rüther entführt den Leser mit ihrem Thriller in die Welt des Filmgeschäftes - einem Sammelsurium an Menschen, die es genießen im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen und sich selbst zu inszenieren.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die naive und nette Marike, Theaterschauspielerin, die kurz vor ihrem Durchbruch im Filmgeschäft steht. Denn endlich hat sie die heiß ersehnte Filmrolle ergattert. Marike ist ein sehr unsicherer Mensch, sie braucht die Anerkennung anderer. Positive Kritiken versetzen sie ihn Hochstimmung, negative Kritiken reißen sie herunter und verstärken ihre eh schon reichlich vorhandenen Selbstzweifel. Sie ist ein gefundenes Fressen für Menschen, die gern Macht auf andere ausüben. So auch Jutta, die für sich die Rolle beansprucht, Marikes „beste“ Freundin zu sein und sie in ihrer Arbeit beim Film unterstützen möchte. Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen durchläuft Höhen und Tiefen. Es gibt Momente, in denen Marike, das Zusammensein mit Marike und ihre Unterstützung genießt. Dann aber leidet sie unter der Unberechenbarkeit von Jutta, die Marike permanent manipuliert und dominiert. Und jede Kritik seitens Jutta nähren Marikes Selbstzweifel aufs Neue.