Freitag, 3. Juli 2015

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)

Auf dieses Buch bin ich vor einigen Monaten bei Whatchareadin gestoßen. Jeder, der dieses Buch gelesen hatte, war völlig hin und weg. Begeisterung, egal, wohin man blickte. Soviel Begeisterung ist ansteckend. Also habe ich mir dieses Buch ebenfalls vorgenommen.

Gleich vorab: In einem Rutsch konnte ich es nicht lesen. Das Buch hat etwa 1300 Seiten – ein echtes Schwergewicht. Wer das Buch also wie ich als Hardcover liest, braucht Muckis. Und mal eben das Buch in der Tasche mit sich führen, um beim Arzt oder in der Bahn zu lesen, macht nicht wirklich Spaß. Daher habe ich das Buch nicht überall dabei gehabt, wo ich es hätte lesen können und musste es in mehreren Etappen lesen. Ich hätte mir auch das Ebook herunterladen können, ich hatte aber nun mal bereits die Hardcover-Ausgabe.



Was macht für mich die Faszination dieses Buches aus?
  • Die Handlung spielt in Georgien. Es ist eine Familiensaga über eine georgische Familie. Die Chronik dieser Familie beginnt im Jahr 1900 mit der Geburt Stasias, Tochter eines angesehenen Schokoladenfabrikanten und entwickelt sich über 6 Generationen bis ins Jahr 2006.Die Handlung wird durch historische und politische Ereignisse des letzten Jahrhunderts ergänzt, die die Autorin in einem sehr lebhaften Sprachstil einfließen lässt.  Für einen Leser wie mich, der so gut wie gar nichts über Georgien wusste („ein Land, das irgendwo bei Russland liegt?!“), sind diese Informationen eine echte Bereicherung.
  • Die Frauen in dieser Familie sind sehr besonders. Sie müssen unendlich viel erleiden, fast jede Frau in der Familie wird irgendwann zum Opfer. Aber trotzdem strahlen sie eine Stärke aus, die bemerkenswert ist. Sie lassen sich nicht unterkriegen und schaffen es, sich mit ihrem Leben zu arrangieren.
„Sie sah auf ihre geröteten, rissigen Hände voller Dreck hinunter. Sie lebte im Jetzt. In diesem Augenblick. Sie fragte sich, wie so oft zuvor, ob sie eigentlich wusste, wofür sie so hart, so verbissen, so krampfhaft versuchte, am Leben zu bleiben.“ (S. 288)

  • Der Schreibstil ist unglaublich. Ich habe selten einen Roman gelesen, der so sprachgewaltig geschrieben ist. Man bleibt oft bei einzelnen Passagen hängen, weil man durch diese ausdrucksstarke Sprache einfach nur beeindruckt ist.

„Die Welt tanzte einen Reigen. Die Skelette unter der Erde gaben den Rhythmus vor. Die Rosen wuchsen nur noch schwarz. Alle Wege fühlten sich an wie Hängebrücken, schwankend, jederzeit zum Absturz bereit. Sogar der Schnee bekam eine bläuliche Färbung. Der Himmel war durchlöchert; Einschusslöcher sah man auch am Horizont und die Sonne strahlte zwar müde vor sich hin, konnte aber nicht mehr wärmen….., und Kinder wurden schlagartig erwachsen und putzten Granaten. Tränen waren selten und teuer geworden. Nur Fratzen gab es kostenlos.“ (S. 281)
Es gibt noch eine weitere Besonderheit in diesem Buch, die mir sehr gut gefallen hat. Der Vater von Stasia, mit der die Chronik beginnt, war Schokoladenfabrikant. Eine seiner Kreationen ist ein besonderes Rezept für Schokolade. Dieses geheime Rezept wird von Generation zu Generation weiter gereicht und gern als Seelentröster angewendet. Wenn es Probleme gibt, wird erstmal Schokolade gemacht. Leider ist dieses Rezept auch mit einem Aberglauben verbunden. Schon Stasia’s Vater hat seiner Tochter auf den Weg gegeben, dass, wenn man zuviel von dieser besonderen Schokolade genießt, sich ein großes Unglück anbahnen kann. Jedesmal, wenn also wieder dieses ganz besondere Familienrezept für diese unwiderstehliche Schokolade zum Einsatz kam, lauerte ich darauf, dass sich der nächste Schicksalsschlag ankündigt. Dadurch wurde der Roman stellenweise richtig spannend.
„Hatte es vielleicht mit seiner betörenden Kreation etwas Fatales auf sich? Hatte die Schokolade, die er ihr all die Monate hindurch so enthusiastisch zubereitet hatte, das Unglück ins Rollen gebracht? War sie vielleicht zu köstlich, als dass sie, ohne einen hohen Preis dafür zu zahlen, hätte verzehrt werden können? Bescherte sie den Menschen, die sie kosteten, so viel Glück und Selbstvergessenheit, dass die Realität sich danach umso hemmungsloser an ihnen rächen musste? War sie vielleicht gar mit einem Fluch belegt?“(S. 55f)
Ich konnte dieses Buch leider nicht in einem Rutsch lesen, was nicht nur an der Seitenanzahl gelegen hat, sondern auch an der Fülle von Eindrücken und Informationen, die es zu verarbeiten galt. Zwischendurch musste ich etwas anderes lesen. Da die Geschichte der Familie mich aber nicht losgelassen hat, habe ich immer wieder zu diesem Buch zurückgefunden und mich gern erneut in seinen Bann ziehen lassen.