Samstag, 5. Oktober 2013

Valentin Senger: Kaiserhofstraße 12

Zur Erstausgabe dieses Buches schrieb die "Neue Zürcher Zeitung:

Wenn es in den zwölf Jahren Hitler-Zeit Wunder gegeben hat, so gehört das unbehelligte Überleben einer russisch-jüdischen Familie mit kommunistischen Kontakten mitten in Frankfurt am Main gewiß zu den größten.

Das Thema ist äußerst interessant. Wie schafft es eine jüdische Familie in Deutschland, unbehelligt durch den Hitlerwahnsinn zu kommen. Auf den ersten Seiten erfahren wir etwas über die Familie Senger. Danach stellt uns der Ich-Erzähler Valentin Senger die Nachbarn vor.
So richtig warm wurde ich aber anfangs noch nicht mit ihm. Er schient mir so emotionslos.

Hört sich das nicht irgendwie sehr sachlich an?

Den Nazis aber paßte Karlchen Waßmann mit seiner 'Liebe' nicht, und weil er keiner anderen Beschäftigung nachging als der Herstellung und dem Verkauf seiner Zeitung - er selbst bezeichnete sich mit einem naiven Stolz als Schriftsteller und Schriftsetzer -, nannten sie ihn einen Parasiten der Volksgemeinschaft, schafften ihn eines Tages in ein Konzentrationslager und brachten ihn dort um.

Auch hier erfährt man wieder, dass viele Juden die Gefahr für sie gar nicht einschätzen konnten. Wie viele wären vielleicht noch mit dem Leben davongekommen, wenn sie nicht gedacht hätten, es wird schon nicht so schlimm.

Auch das Thema, dass nach dem Krieg ja niemand von was wusste, kommt hier zur Sprache. Valentin Senger hörte die gegrölten Hasslieder der Nazis gegen die Juden:

So wie ich konnte jeder hinhören, wenn er nur hören wollte, was die SA-Männer sangen, oder besser grölten, denn diese Sorte Lieder konnte gar nicht gesungen, sie mußte gegrölt werden.
Darum war nach dem Zusammenbruch des Hitlerreichs mein Mißtrauen so groß, und ist es noch heute, wenn deutsche Biedermänner, die das Tausendjährige Reich gut überstanden haben, andere glauben machen wollten, sie hätten von nichts gewußt, seien selbst die Opfer einer Täuschung geworden und während der ganzen Zeit ahnungslos über die wahren Absichten Hitlers gewesen.

Der Nationalsozialismus war nun überall zu spüren. Nicht nur, dass die Parolen gegrölt wurden. In den Schulen wurde der Hitlergruß eingefügt, die meisten Lehrer übten Propaganda gegen die Juden, erzählten Schauergeschichten.
Und Valentin Senger musste stillhalten, bekam von der Mutter eingebleut, den Mund zu halten:

Wie ich dieses Schweigen, dieses Immer-nur-Dulden, dieses Nichtaufbegehren verfluche! Mein ganzes Leben war davon geprägt. Noch heute entschuldige ich mich zwanzigmal am Tag für alles und nichts. 

So langsam verstehe ich diesen sachlichen Ton. Um diese Erinnerungen aufzuschreiben, braucht man das wohl.

Und auch hier die Frage nach Gott. Selbst eine mir bekannte Pastorin konnte sie mir nicht beantworten:

Wenn ich an den gewaltsamen Tod von sechs Millionen Juden in Verbrennungsöfen, Gaskammern und bei Massenerschießungen, wenn ich an das traurige Schicksal meiner Vorfahren denke, frage ich mich auch: Was für ein Gott ist das, der seine Kinder so verkommen läßt? Wo waren während der schrecklichen Zeiten seine Propheten Elijahu oder Jeremias, wo waren Abraham, Isaak und Jakob? Für was brauchen wir sie, wenn sie nur im Betsaal lebendig werden und vielleicht noch in schönen jüdischen Geschichten, wo sie immer nur Gutes stiften? Ein schlechter Gott, schlechte Propheten, schlechter Priester müssen das sein, die keine Wunder geschehen lassen in diesen Zeiten.

Valentin Senger fragt aber auch, warum sich die Juden, auch in noch früheren Zeiten, nie gewehrt haben. Warum sind sie nie aufgestanden gegen ihre Peiniger.

So erinnert sich Valentin Senger an viele kleine Begebenheiten, die für die Familie äußerst gefährlich waren, ohne sie aber in eine chronologische Reihenfolg bringen zu können.

Mit der Zeit wurden es nach der Kristallnacht immer weniger Juden in der Kaiserhofstraße. Und die wenigen wurden in den ersten Kriegsjahren dann auch noch in die Konzentrationslager verschleppt.

Familie Senger lebt in einem dauerhaften Zustand der Angst. Dadurch konnte man fast schon wieder leichtsinnig werden. Und so vergingen die Jahre. Jahre, in denen Mama auch dafür sorgte, dass Valentin sich nicht mit Mädchen abgab. So lernte er die Liebe bei einer Prostituierten kennen.

Und um nicht alles vorweg zu nehmen, beende ich hier meine Aufzeichnungen und empfehle dieses interessante Buch. Versteht es doch Valentin Senger unheimlich gut, das zwar unbehelligte, aber unheimlich gefährliche Überleben für diese jüdische Familie in Nazi-Deutschland zu beschreiben.