Mittwoch, 29. August 2012

Walter Kempowski: Somnia - Tagebuch 1991

Ein Wiedervereinigungsplankton:

Wir sind jetzt zwiespältig. Daß sich schon jetzt so viele Widerstände aufgebaut haben gegen die Wiedervereinigung, das macht uns traurig und betroffen. Die Geschäftsleute fürchten um ihre Pfründe, und den westdeutschen Kaufleuten hängt die Zunge aus'm Hals." - 30. Januar 1991 (Somnia)

Ich finde das ganz verständlich. Für einen Großteil der Bevölkerung, wozu ich mich auch zähle, war das, was nach der Wende kam, ein Kulturschock.

Es ist ja schwierig, etwas über ein Tagebuch zu schreiben. Ich beginne jetzt mit dem 12. April 1991:

1961: Juri Gagarin umkreist als erster Mensch die Erde
Zitat:
,Sirius' wird überall gut aufgenommen. Dadurch daß er einen Monat nicht lieferbar war, ist mir ein Schaden von 20000 Mark entstanden.
Verkaufszahl ca. 11000.

2007 13000 Exemplare, Endzustand. Neuerdings rappelt er sich wieder auf.
Den "Sirius" habe ich mir auch gekauft. Vom "Echolot" habe ich noch nicht alle zusammen. Die Arbeit an Letzterem ist in diesem Tagebuch dokumentiert.

Saddam Hussein, Irak-Krieg, Tageszeitung, Filme, Politiker, Schriftsteller, Lesungen, Haus in Rostock, mit dem es nur Ärger gab, Familie, die Hunde und vieles mehr wird fast täglich angerissen. Teils mit ironischen Bemerkungen (das denke ich aber nur, weil ich ihn ja nicht persönlich kenne).

Wie hatte ich hier in Ostfriesland schon öfter einige Frauen beneidet, wenn in der Zeitung so ungefähr stand: "Landfrauen besuchten Walter Kempowski in Nartum". Ich wäre so gerne mal mitgefahren.

Nartum, 27. Juni 1991
Gegen Abend 30 Landfrauen, die unser Haus besichtigen wollten. Ich zog mich zurück und ließ es Frau Schönherr machen, die die Damen ja auch eingeladen hatte.
Unter solchen Umständen muß ich arbeiten. Ein Wunder, daß ich überhaupt etwas zustande bringe. Ich blieb am Schreibtisch sitzen und war ebenfalls zur Besichtigung freigegeben.
Man kann immer wieder rauslesen, wie enttäuscht Walter Kempowski darüber ist, dass seine Arbeit nicht so gewürdigt wurde. Bei Lesungen musste er immer wieder feststellen, dass viele Leute seine Bücher gar nicht gelesen haben.

Dass sein Verleger nicht mit ihm reden will. Dazu ein Eintrag vom 23. August 1991:

"Hier Paeschke?"
"Ja, guten Tag, Herr Paeschke."
"Sie wollten mich sprechen?"
"Ja, wir haben lange nichts voneinander gehört..."
"Ich komme gerade aus dem Urlaub und finde Ihren Zettel..."
"Es ist eigentlich etwas sonderbar, daß man seinen Verleger jahrelang nicht zu sehen kriegt."
"Ich dachte, daß die Betreuung durch Ihren Lektor gut sei?"
"Ja, aber wir müssen uns doch mal darüber unterhalten, wie es nun weitergehen soll."
"Bisher lief doch alles ganz gut, oder?"
Dann die Schwierigkeiten, an Material für den "Echolot" heranzukommen. Wer brauchbares Material hat, mag es nicht herausrücken. Wer freiwillig was weggibt, da passt vieles nicht.

Aber welche Freude, als man in Rostock ein Kempowski-Archiv einrichten möchte. Komischerweise darf es nicht Walter-Kempowski-Haus oder Walter-Kempowski-Archiv heißen. Letztendlich heißt es Kempowski-Archiv. Dazu ein Eintrag vom 22. August 1991:

Robert, dem ich heute von meinen Rostocker Archivplänen erzählte, sagte: "Bravo! Die sollen an unserm Namen ersticken! Hier 'n Blumenkübel, da 'ne Bank auf dem Unterwall."
Recht hat er, finde ich.

Ich bin traurig, dass ich eine derjenigen bin, die seine Bücher zu Lebzeiten nicht gekauft bzw. gelesen habe. Bei entsprechenden Einträgen von ihm kam bei mir immer das schlechte Gewissen hoch. Dabei interessiert mich doch die Rostocker Geschichte. Habe jahrelang Material (Bilder, Postkarten, alte Dokumente, Bücher, Zeitungsausschnitte, postalische Sachen usw.) gesammelt, was noch wartet, aufgearbeitet zu werden. Habe sogar nach dem Umzug nach Ostfriesland diverse Firmen in Rostock und Warnemünde angeschrieben, ob sie mir nicht Geschichtsmaterial schicken. Und von einigen habe ich sogar richtig was bekommen.

Schade, hätte ich dieses Buch zu seinen Lebzeiten gelesen, hätte ich ihm einen Brief geschrieben. Hätte ihm geschrieben, dass sein Verleger Unrecht hatte und Tagebücher doch gelesen werden.